Die Rückkehr – Erzählung von Bernd Thümmmel
1995 kommt Bernado zurück nach Berchtesgaden. Dort arbeitet er täglich in einer kleinen Produktionsfirma. Nach Tagen erscheint ihm das seltsam. Nach Wochen wird ihm klar, dass ihn seine Kindheit im Kinderheim Salzberg auf dem Obersalzberg zurück geführt hat. Er beginnt damit, seine Erinnerungen jeden Morgen noch vor Beginn der monotonen Fabrikarbeit in seine Schreibmaschine zu hämmern.
Inhaltsverzeichnis
1. April
Aus meinem Zimmerfenster habe ich morgens um sechs Uhr, bevor der kalte Aprilregen einsetzt, eine herrliche Aussicht. Draußen sehe ich grüne gebirgige Landschaft. Nebelbänke ziehen gemächlich durch das enge Tal. Für einen kurzen Moment strahlt die Sonne durch ein Wolkenloch. Ihre Strahlen hüllen die hohen Berggipfel rings um meine kleine Wohnung in rote Farbe. Spätestens um Viertel vor Sieben stehe ich jeden Morgen im Badezimmer. Ich rasiere mich und putze die Zähne. Dabei beobachte ich durch das Badfenster, wie sich draußen die Wolkendecke verdichtet. Langsam schieben sich dunkle Wolken an den Berggipfeln herab. Obwohl der Tag erst beginnt, wird es draußen dunkler. Um sieben Uhr beginnt es täglich zu regnen.
Seit wenigen Tagen bewohne ich eine Dreizimmerwohnung mit Aussicht auf das wunderschöne Tal. Vor der Wohnung liegt eine gepflasterte Straße. Es ist die Hochsteinstraße. Sie führt steil auf den Hochstein hinauf. Von den drei Zimmern in der Wohnung bewohne ich ein Durchgangszimmer mit einem kleinen Balkon hinaus Richtung Hochsteinstraße und ein Schlafzimmer. Das dritte Zimmer ist unbewohnt. Die Wohnung stellt mir der Chef kostenlos zur Verfügung. In dessen Fabrik arbeite ich seit meiner Rückkehr nach Berchtesgaden.
In der kleinen Fabrik, hinten in dem wunderschönen Tal, produziert der Chef Körperpflegemittel. Heute weiß ich noch nicht, ob es sich lohnt, meine sichere Stellung in der Stadt aufzugeben. Ich weiß noch nicht so recht, ob mir die Arbeit Spaß macht. Spaß während der Arbeit, egal welcher, hatte ich in meinem Leben bislang eigentlich noch nie gespürt. Im Grunde hatte ich mich bei keinem meiner vorherigen Arbeitsplätze gefragt, ob Spaß dabei wäre. Hauptsächlich war es um die Frage gegangen, ob die Arbeit erträglich ist. Auch hier in Berchtesgaden geht es also um diese Frage. Es ist meine Aufgabe, mir ernsthaft zu überlegen, ob ich meinen sicheren Schreibtisch in München aufgeben möchte, um in diesem herrlichen Gebirgstal zu leben. Leider ist der April eiskalt und verregnet. Doch das nasskalte Wetter soll meine Entscheidung nicht beeinflussen.
Mein neuer Arbeitsplatz liegt in einem winzigen Industriegebiet. In meinen Augen ist das, wie ich ein Industriegebiet eigentlich nicht nennen sollte; romantisch. Jeden Morgen finde ich es mitten im Grünen. Es liegt eingekeilt zwischen hoch aufragenden Bergen. Neben dem Industriegebiet fließt ein wilder, romantischer Fluss.
Die Arche ist zu einem braunen, reißenden Strom angeschwollen. Sie führt das eiskalte Wasser von zwei wunderschönen Gebirgsseen mit sich. Dem Hintersee und dem Königsee. Am Industriegebiet fließen die Wässer beider Seen vorbei, um sich in Österreich in die Salzach zu verdünnen und in Salzburg für einen momentan sehr hohen Wasserstand zu sorgen. Parallel der reißenden Arche führt eine breite Landstraße nach Salzburg. Über die Straße fahre ich täglich zur Arbeit.
An den ersten Tagen habe ich durch die hohen Fenster täglich die reißende Arche und die Natur rund um das Industriegebiet beobachtet. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf die grünen, dicht bewaldeten Bergfüße. Morgens sah ich draußen die hohen, von Nebel umhüllten Berge. Tagelang habe ich mich an der grünen Natur und der wilden Landschaft erfreut. Die viel befahrene Straße hinter den dicht wachsenden Bäumen an der Arche sieht im Frühling und Sommer nur, wer sie sehen möchte. In den ersten Tagen wollte ich Berge, Bäume und Gräser sehen, denn ich komme aus der Stadt.
Jeden Morgen um sieben Uhr stehe ich unter meinem schwarzen Regenschirm vor dem gelb gestrichenen Berchtesgadener Finanzamt in der Nonnenstraße. Das Amt liegt nur wenige Schritte unterhalb der Hochsteinstraße. Ich stehe auf dem Bürgersteig und warte. Auf der gegenüber liegenden Straßenseite beobachte ich das Altenheim. Es ist ein rustikales Gebäude mit dunkelbraunen Holzbalkonen.
Täglich bleibt mir nichts anderes, als am Straßenrand zu stehen und das bisschen, was sich um die frühe Stunde tut, zu beobachten. Jeden Morgen stehe ich zwar nur wenige Minuten vor dem Finanzamt, doch ich genieße jede Sekunde unter meinem Regenschirm, denn ich brauche die Zeit der Stille, bevor ich im Wagen neben dem Chef sitzen muss, um zu meinem neuen Arbeitsplatz zu gelangen. Ich warte und sauge die Ruhe konzentriert in mich auf. Ich höre den Regen, wie er auf meinen Regenschirm herniederprasselt. Ich denke daran, wie schön es wäre, in einem Zelt zu liegen, das Geräusch des Regens zu genießen und einen ruhigen Urlaubstag auf einem verregneten Zeltplatz ohne Aufgabe ohne Vorhaben für den Tag, vor mir zu haben. Ich genieße den Gedanken so sehr, dass ich das Gefühl habe, den Geruch der Zeltwand, auf die der kalte Regen nun heftig nieder schlägt, in der Nase zu haben. Ich rieche den modrigen Geruch von Feuchtigkeit, der entsteht, weil das alte Zelt den Winter über im Kellerschrank lag.
Der Chef hat mir angeboten, mich morgens in seinem Auto mitzunehmen. Er hat es sehr gut gemeint mit diesem Angebot. Weil er ohnehin jeden Morgen nahe dieser Straße unterwegs sei, mache es für ihn nur einen winzigen Umweg, mich am Finanzamt einzuladen. Es sei egal, ob er morgens dort vorbeifahre oder auf der breiten Straße an der Arche bleibe. Das freundliche Angebot des Chefs konnte ich nicht abschlagen. Das hätte mir große Schwierigkeiten bereitet. Nachvollziehbare Argumente, nicht auf das gut gemeinte Angebot einzugehen, gab es nicht. Begeistert, wie der Chef mir die Arbeit in seiner Fabrik erklärt hat, bietet er den winzigen täglichen Umweg an.
Durch die Fenster im Finanzamt sehe ich drei Beamte. Sie sitzen hinter leuchtenden Computermonitoren. Zwei andere fahren in weißen Kleinwagen auf dem Gehsteig vor. Schwarze Aktentaschen werden über zwei Fensterbänke im Erdgeschoss gehoben. Die Männer steigen aus ihren Dienstfahrzeugen. Sie holen die Taschen und verstauen sie in den kleinen Kofferräumen. Den Vorgang beobachte ich täglich nicht allein. Drei alte Damen stehen hinter den Fenstern ihrer Zimmer. Ich sehe deren Umrisse hinter weißen Vorhängen. Um besser beobachten zu können, schieben sie die Vorhänge ein winziges Stück beiseite. Die Frauen stellen fest, dass rund um das Finanzamt täglich alles beim Alten bleibt. Die Beamten steigen immer pünktlich in ihre Kleinwagen und fahren los.
Weil ich seit einer Woche hier stehe, bin ich ein bisschen Alltag der alten Damen geworden. Ich gehöre noch nicht richtig dazu, so wie die Finanzbeamten, die schon seit vielen Jahren da sind, aber ich mische mich in ein alltägliches Bild. Ich warte geduldig im Regen. Ich bleibe so lange stehen, bis der Wagen des Chefs das leichte Gefälle vor dem Amt herunter rollt. Die drei alten Frauen verliere ich dann kurz aus den Augen. Stattdessen sehe ich den beiden Wagen der Finanzbeamten nach, wie sie tosend die Steigung der Hochsteinstraße nehmen. In der Mitte der Steigung begegnen beide dem Wagen des Chefs. Dessen schwere Limousine rollt sehr schnell heran, kommt am Straßenrand zum Stehen, damit ich einsteigen kann. Die alten Frauen sind kurz wieder in meinem Blickfeld. Ich sehe eine Dame im ersten Stock, während ich die Wagentür öffne. Sie zieht den Vorhang zu. Jetzt bücke ich mich, um in den Wagen zu steigen, die Dame im zweiten Stock zieht den Vorhang zu. Die dritte Dame sehe ich noch für Sekunden durch das Fahrerfenster, während ich dem Chef die Hand schüttle.
Weil ich gegenüber dem Chef keinen Eindruck von Müdigkeit entstehen lassen will, setze ich mich schwungvoll neben ihn in das schwarze Leder. Ich denke nicht an den herannahenden Arbeitstag in dessen kleiner Firma. Ich denke nicht an den Chef. Meine Gedanken sind noch bei den alten Frauen. Was tun sie den ganzen Tag, während ich hinter monoton lärmenden Abfüllanlagen und Verpackungsmaschinen stehe? Wie sieht deren Alltag im Altenheim gegenüber dem gelben Finanzamt aus? Steigen die dichten Wolkenmassen an den Bergen empor und geben mittags endlich den Blick hinüber zum Obersalzberg frei, damit die Damen eine schöne Aussicht genießen können? Werden die Damen heute im Ort spazieren, um etwas einzukaufen oder in einem Café zu sitzen? Ist ihr Leben in diesem schönen Ort interessant, vielleicht sogar schön?
Auf dem Weg zur Arbeit spüre ich, dass ich zu so früher Tageszeit sehr ungern spreche. Ich spüre, dass ich die Minuten morgens zwischen meinem gemieteten Zimmer, dem Finanzamt und meiner neuen Arbeitsstätte am liebsten überspringen würde. Ich wünsche, sie wären nicht da, denn ich darf nicht allein sein auf dem Weg zur täglichen Arbeit. In der Stadt war ich diesen Weg immer allein gegangen. An jedem vorherigen Arbeitsplatz war ich morgens allein auf dem Weg. Es war noch nie anders. In Berchtesgaden ist es jetzt anders, ganz anders.
Ich sitze schweigend neben dem Chef und suche Gründe für mein Denken. Es sind Minuten der täglichen Besinnung und Beschaulichkeit. Minuten, in denen ich an einem neuen Tag einen ersten Blick in mich selbst wage. Es könnten heute die einzigen Minuten sein, in denen ich noch allein bin. Noch keine Routinegespräche zwischen Vorgesetzten, Kollegen, Lieferanten und anderen Arbeitskräften. Deshalb sind es wichtige Minuten. Es könnten meine ruhigsten Minuten des Tages sein, denen mich der Chef beraubt.
Der Arbeitsalltag presst mein Gehirn in maschinelle, monotone Denkschemen. Mein Körper, meine Konzentration, mein Denken, all das zwingt der Arbeitsalltag in diese Firma. Schnelle Produktion, beste Qualität, hohe Maschinenleistung und Erfolg sind die Kriterien, an die zu denken ist, die zu realisieren sind. Deshalb brauche ich die freien Minuten am Morgen! Das sind Minuten der klaren Gedanken. In ihnen ist ungezügeltes Denken noch möglich. Der Kopf ist noch frei. Er ist noch nicht von der täglichen Arbeit gemartert und beschnitten. Weil ich abends nach dem langen Arbeitstag immer müde bin, dass ich meist schnell einschlafe, sind es die letzten Minuten des Tages, in denen mein Kopf noch klar ist und mein Denken noch frei. Sie verstreichen im Wagen neben dem Chef.
Vielleicht deshalb mein Schweigen am Morgen. Morgens im Wagen neben dem Chef erreiche ich nach wenigen Sekunden einen Tiefpunkt. Vielleicht ist das ein Zeichen dafür, dass an dieser Situation morgens im Wagen des Chefs etwas nicht stimmt. Vielleicht ist es sogar ein Anzeichen dafür, dass an meiner gesamten Situation, meiner Rückkehr in diesen Ort und meiner Arbeitsaufnahme in dieser Firma etwas nicht stimmt. Seit Tagen versuche ich herauszufinden, was hier nicht stimmt. Bislang erfolglos.
Ich darf mit dem Chef in seinem Wagen in seine Fabrik fahren. Jeden Tag habe ich das Gefühl, dass der Chef für mich am wenigsten geeignet ist für ein Gespräch. Weil seine kleine Fabrik so nah ist, vergeht die Autofahrt schnell. Mir fällt kein Gesprächsthema ein. Auch heute Morgen nicht. Ich weiß nicht, was zu der Situation in seinem Wagen um diese Uhrzeit passt. Ich weiß nicht, was ich mit ihm zu besprechen hätte, das zu dem angesteuerten Ziel passt. Deshalb spreche ich in seinem Wagen nur das Nötigste. Deshalb denke ich jeden Morgen zunächst an die Finanzbeamten und die alten Damen, die ich vorher gesehen habe.
Ich weiß noch nicht, wohin mein Denken mich führen wird. Im Moment habe ich Urlaub. Von meiner Dienststelle in der Stadt bin ich beurlaubt, um hier in dieser Fabrik zu arbeiten. Am fünften Arbeitstag meines geopferten Urlaubs im April denke ich nur noch wenige Sekunden an die alten Frauen hinter den Vorhängen. Die Finanzbeamten vergesse ich völlig. Auch über den Chef denke ich nicht nach. Die fünf Minuten Fahrzeit neben dem Chef nutzte ich fast vollständig, um an mich zu denken.
Ich bin in diesen Ort zurückgekommen, um zu arbeiten. Jeder Mensch in meinem Alter hat zu arbeiten, wenn er nicht krank ist. So begründe ich heute meine Anwesenheit hier in diesem Ort. Es geht um meinen Lebensunterhalt. Den bekomme ich nicht umsonst. Ich bin nicht zurückgekommen, um die Landschaft zu genießen. Ich bin nicht hier, um die Menschen in Finanzamt und Altenheim morgens um sieben Uhr zu beobachten und über deren Alltag nachzudenken. Bin ich gekommen, um über etwas anderes nachzudenken? Bin ich wirklich nur zurückgekommen, um in dieser Fabrik zu arbeiten? Ich weiß es noch nicht.
Ich komme aus der Stadt. Dennoch bin ich kein Außenstehender in diesem Touristenort. Ich tauche wieder ein in das Alltagsleben dieser bayerischen Menschen. Ich tue das, weil ich arbeiten und Geld verdienen muss. So begründe ich das heute. Ich wohne zwischen beliebten bayerischen Gebirgsgipfeln mit Ausblick hinüber zum Obersalzberg. So schön kann ich in der Wohnung des Chefs wohnen! Er stellt sie mir zur Verfügung, damit ich in seiner Fabrik arbeiten kann. Ich lebe und arbeite in einem Ort, von dem vielleicht mancher Mensch aus norddeutschen Industriestädten träumt, wegen der schönen Natur. Diese Landschaft diente so manchem erfolgreichen Heimatfilm als Kulisse. Ich opfere meinen Urlaub, um mitten in dieser idyllischen Landschaft zu arbeiten. Während ich so denke, gibt der Chef im Wagen kräftig Gas.
Ich glaube, dass ich in der Hauptsache zurückgekommen bin, um zu arbeiten. So denke ich am sechsten Arbeitstag und so denke ich immer noch am siebten. Vielleicht wähle ich diesen schönen Ort, weil ich insgeheim hoffe, mit dieser Wahl mein zwiespältiges Verhältnis zu Arbeit jeder Art zu ordnen? Vielleicht möchte ich in der Schönheit dieser Landschaft meine Einstellung zur Arbeit sogar verbessern? Daran denke ich am Morgen des achten Arbeitstages. Vielleicht hoffe ich insgeheim darauf, dass mir dies in der hübschen, reizvollen Kulisse gelingt?
Ich komme nicht als Tourist, das ist von Beginn an sicher. Der Ort ist sehr touristisch. Er liegt unterhalb des unrühmlich geschichtsträchtigen Obersalzberges. Er liegt eingekeilt zwischen Untersberg und Hohem Göll. Oder hat mein Zurückkommen doch mit Tourismus und Landschaft zu tun? Ich komme nicht als Saisonarbeiter. Ich wähle diesen Ort nicht als vorübergehendes Sommerquartier. Ich will hier nicht nur einige Monate einen finanziellen Reibach machen. Ich will überhaupt keinen Reibach machen, sondern geplant ist hier zu arbeiten und zu leben.
Ich erhoffe ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Arbeit und Leben. Deshalb stehe ich um sieben Uhr morgens vor dem Finanzamt, warte auf den Wagen des Chefs und lasse mich dabei voll regnen. So denke ich schließlich am letzten Arbeitstag im April. Ich hoffe auf die Realisierung einer persönlichen Philosophie, einer Utopie. Ein ausgewogenes und positives Verhältnis zwischen beidem erwarte ich ausgerechnet in diesem Ort! Ein schönes Leben in herrlichster Landschaft mit guter Luft. Dazu die notwendige Arbeit. Das habe ich hier gefunden, so denke ich heute am letzten Tag meines geopferten Urlaubs.
2. Sommer
Monate später, morgens im warmen Juli, sitze ich wieder im Wagen neben dem Chef. Wie er es seit Jahren täglich tut, steuert er das Auto in Richtung Königseer Arche. Glaube ich tatsächlich an ein ausgewogenes Leben und Arbeit in diesem schönen Ort, ohne dass meine Vergangenheit, die ich in dieser schönen Landschaft erlebt habe, eine Rolle einnimmt? Lasse ich mich blenden von diesem Ort, der auf den ersten Blick wie ein von den Problemen der Welt abgeschirmtes Paradies wirkt? Zweifel flammen erst auf, als es in Berchtesgaden sommerlich warm ist. Ich habe meine sichere Anstellung in der Stadt endgültig aufgegeben.
Nach wenigen Sekunden im Wagen des Chefs frage ich mich: Was sollte mein Träumen vor dem Finanzamt im April? Warum mein träumerisches Beobachten der trügerischen Idylle zwischen Finanzamt und Altenheim? Ich weiß es nicht. Im warmen Juli merke ich, dass ich die Zeit in dem Ort brauche, denn ich möchte genau das herausfinden, was ich nicht weiß.
Nach drei Tagen kenne ich die kleine Firma wie im April. Ich kenne die Menschen, die in ihr arbeiteten, und die Maschinen, an die ich mich herantraue.
“Das alles ist keine Hexerei”, sagt der Chef mehrmals am Tag zu mir.
Ich habe das Gefühl, seit April nicht weg gewesen zu sein. Könnte das Hexerei sein? Warum fühle ich schon nach drei Tagen wieder die gleiche Langeweile? Ich muss mich sogar bemühen, dass mein gespieltes Interesse an der Fabrikarbeit nicht als klares Desinteresse entlarvt wird. Ich sehe mich schon nach drei Tagen auf einem Weg, den ich seit vielen Jahren aus der Stadt kenne. Dort bemühte ich mich täglich um das Schauspiel der Arbeit. Das Spiel besteht in der täglichen Übung, auf der Bühne etwas täuschend echt aussehen zu lassen, etwas perfekt vorzutäuschen, so gut, dass keiner auch nur daran denkt, dass ich ein Schauspieler bin.
Seit Jahren täusche ich Interesse daran vor, täglich die nahezu gleiche Arbeit zu verrichten: Ich finde sie immer noch interessant, obwohl ich sie kenne und eindeutigen Widerwillen in mir spüre. Bloß nichts anmerken lassen von dieser Langeweile! Ich bin engagiert und interessiert. Jeden Tag laufe ich mit wachen Augen durch meine Arbeitsstätte, mit täuschend echten Blitzen in den Augen, die ausstrahlen, dass ich ein zuverlässiger leistungsstarker Mitarbeiter bin. Mein perfektioniertes Spiel funktioniert. Es verschafft mir beste Zeugnisse und einen sehr guten Ruf. Mein Abschied von meinem Arbeitsplatz in der Stadt wurde von allen Kollegen und den Chefs tief bedauert. Leistungsträger kommen und gehen. Wann ihre Zeit um ist, wissen sie selbst am besten. Auch das vorzutäuschen gehört zum Spiel.
Warum sollte die Arbeit in dieser Fabrik Hexerei sein? Täglich füllen die Maschinen monoton und laut ratternd ihre weiße oder bräunliche Masse in Cremedosen. Warum muss der Chef, der darauf hofft, dass ich in seiner Fabrik eine neue Heimat finde oder meine alte Heimat wieder finde, betonen, dass Arbeit keine Hexerei ist? Sieht man mir an, wie ich über Arbeit denke? Bisher hatte ich nicht an Hexerei gedacht. Wie arbeitet ein Mensch, der so etwas denkt? Arbeitet er wie ich? Schnell, sauber, zuverlässig. Ein angepasster Stil, der Erwartungen nicht enttäuscht.
An Hexerei denke ich nie bei der Arbeit, vielmehr denke ich oft über den Sinn dieser Arbeit nach. Wo bleibt der sinnstiftende Moment? Wo bleibt das, wovon ich täglich in den Zeitungen lese? Millionen von arbeitslosen Menschen, die keinen Sinn mehr sehen, weil sie keine Arbeit haben. So lese ich um sechs Uhr morgens vor meiner dampfenden Kaffeetasse. Welchen Sinn haben diese Millionen verloren? Einen Sinn, den ich nicht einmal erkenne, obwohl ich in der Fabrik Arbeit habe! Mit der Suche nach Sinn bin ich überfordert, vielleicht bin ich mit der gesamten Arbeit in dieser Fabrik überfordert.
Was aber ist daran anders als an meinem Arbeitsplatz in der Stadt? Vielleicht hängt meine Überforderung gar nicht mit der täglichen monotonen Arbeit zusammen, sondern mit der Frage, warum ich ausgerechnet in diesen Ort zurückgekommen bin, um zu arbeiten?
Draußen sehe ich treibende Nebelschwaden. Dichte, aufeinander geschichtete Nebelbänke. Sie treiben gemächlich vom Grünstein, dem grünen Berg am Fuße des Watzmanns, durch den Berchtesgadener Talkessel. Über der kalten, vom anhaltenden Regen im Monat zuvor vollen Arche treiben sie hinweg. Aus deren Wasser steigt er auf und verbindet sich mit den oben treibenden Schwaden. Die Nebelmassen treiben am Obersalzberg vorbei. Die undurchsichtige Menge nimmt ihren Weg durch das breiter werdende Tal Richtung Salzburg. Sie treibt meinem Arbeitsplatz entgegen.
Ich beobachte das Nebeltreiben vor meinem Zimmerfenster. Wie ein Kind denke ich jetzt daran, mich mit treiben zu lassen. Ich träume von der Schönheit des Landes aus dem Blickwinkel dieser langsam treibenden Nebelbänke. Unten stelle ich mir blumenreiche Wiesen zwischen den steil aufragenden, bewaldeten Berghängen vor. Ich erkenne da unten Kühe, wie sie auf den Wiesen grasen. Plötzlich sehe ich auch die breite Straße nach Salzburg. Ich schiebe etwas Nebel beiseite, um besser sehen zu können. Ich erkenne den geraden, grauen Strich mitten in den grünen Wiesen. Es ist die Straße. Bunte Autos flitzen dort hin und her. Laut dröhnt deren Lärm in meine Nebelbank herauf. Ich rieche eine stinkende Mischung aus feuchtem Nebel und den scharfen Abgasen. Ich lehne mich deshalb schnell zurück in meine Nebelbank und ziehe dichten Nebel vor mich. So träume ich einige Minuten lang und bedauere später sogar noch, dass ich nicht wirklich in einer Nebelwolke als Beobachter von oben sitzen kann.
Ich schalte das Radio ein. Es meldet sich der Deutschlandfunk. “Viertel nach sechs, guten Morgen”, verkündet der Sprecher. Unglaublich in diesem Gebirgstal den Deutschlandfunk zu hören. Das hatte es früher in den Siebzigerjahren, selbst Anfang der achtziger hier nicht gegeben. Damals konnte ich nicht einmal das dritte Programm des Bayerischen Rundfunks empfangen. Seit einigen Jahren gibt es in dem Tal alles zu empfangen, was die Menschen wollen. Den Grund dafür sehe ich täglich um Viertel nach sechs Uhr. Dann nämlich, wenn die Nebelschwaden im unteren Teil des Obersalzberges kurzfristig ein Loch bieten. Für Minuten habe ich dann freie Sicht auf die Mitte des Berges. Da oben erkenne ich einen riesigen Betonpfeiler. Ich frage Mitbewohner im Haus nach der Bedeutung dieses Betonriesen. “Des is zwengs am Radio und am Fernseher und wegen unserm Funktelefon.” Ich freue mich, dass man die Welt nun auch in Berchtesgaden empfangen kann. Der Betonpfeiler auf halber Höhe des grünen Obersalzberges garantiert es. Er ist die Garantie, dass dieser Ort und der Berg kein abgeschirmtes Paradies sind.
Die erste Meldung des Deutschlandfunks ist, dass in Sebrenica ein Massaker an Zivilisten stattgefunden habe. Die UN habe das Morden trotz ihrer Präsenz nicht verhindern können. Details der Gräueltat seien noch unbekannt.
Krieg und Morden sind mitten in Europa jederzeit möglich. Ich lenke mich mit dieser Horrornachricht von meiner Aufgabe, derentwegen ich nach Berchtesgaden komme, ab. Ich stelle mir das unvorstellbare Leid der Menschen vor, die nur wenige Hundert Kilometer südlich von hier leben. Dort habe ich in den Siebzigerjahren als Kind die Ferien verbracht. Daran habe ich schöne Erinnerungen. Die Wochen am Meer in Istrien waren unbeschwert. Das Kinderheim, nein, diejenigen Kinder, wie ich, die nicht nach Hause zu ihren Eltern fahren konnten, wurden für zwei warme Wochen von Berchtesgaden nach Jugoslawien ans Meer gebracht.
3. Arbeit
Am Ende des Fließbandes krachen die verschlossenen Cremedosen aus der Maschine. Scheppernd knallen sie auf einen weißen Tisch. Ihr Aluminiumverschluss ist noch handwarm. Frauen in weißen Kitteln stehen um den Tisch. Sie leisten Akkordarbeit. Sie verschrauben eilig die Dosen mit weißen Plastikdeckeln. Vorher prüfen sie durch Handdruck, ob der verschweißte Aluminiumverschluss dichthält. Die verschlossenen Dosen stapeln sie zu hohen Säulen. Andere Frauen verpacken die Dosentürmchen in Pappschachteln. Sind die Schachteln voll, stapeln sie die zu Kartonbergen auf bereitstehende Paletten.
Die Arbeiterinnen unterhalten sich während dieser Arbeit. Sie sprechen schnell und laut miteinander. Den lauten und monotonen Maschinenlärm in der Produktionshalle müssen sie mit ihren Stimmen übertönen. Durch die Halle rufen sie sich bayerische Sätze und Fragen zu, die ich nur in Bruchstücken verstehe. Das ist ihre Heimatsprache. Die Akkordarbeiterinnen leben und arbeiten in dieser Sprache. Mir kommt deren Sprache wochenlang fremd vor, bis ich verstehe, dass ich der Einzige in der Fabrik bin, dem es so geht. Ich bin der Fremde, der in deren Heimat kommt und sprachlich nicht mithalten kann.
Täglich stehe ich stundenlang an Maschinen und drücke auf bunte Knöpfe. Die Arbeiterinnen kennen die Knöpfe, deren Funktion und die Maschinen seit Jahren. Obwohl ich die Maschinen kaum kenne, drücke ich schon nach wenigen Tagen Knöpfe. Warum kein Ärger darüber, dass ein Städter in das Industriegebiet im Tal zwischen den idyllischen Bergen kommt und schon nach wenigen Tagen Verantwortung für die Maschinen übernimmt?
Ich bin überzeugt, dass die Akkordarbeiterinnen seit Jahren genau wissen, welche Knöpfe an den Maschinen zu drücken sind. Das Problem ist nicht ihre fehlende Kenntnis. Ich glaube, sie wissen alles, doch sie bedienen die Maschinen nicht, weil sie nicht dafür eingestellt worden sind. Sie sind für Akkordarbeit vorgesehen und nicht für das Knöpfedrücken an den Maschinen. Sie leisten das, wofür sie vorgesehen sind. Sie tun das, wofür der Chef sie eingestellt hatte. Sie respektierten, dass ein fremder Städter in ihr Tal kommt und Knöpfe drückt.
Ich habe das Bedienen der Maschinen nicht gelernt. Ich habe einen anderen Beruf. Trotzdem stellt mich der Chef zum Knöpfedrücken an. Ware zu verpacken und Dosen zu verschrauben ist nicht meine Aufgabe. Ich tue es nur, wenn in der Produktion jede freie Hand benötigt wird.
Die Frauen tun ihre Akkordarbeit jeden Tag. Sie sind glücklich, wenn sie nicht jeden Tag das Gleiche verpacken. Das sagen sie zumindest. Ob das stimmt oder ob sie das sagen, um es sich mit dem Chef nicht zu verderben, weiß ich nicht. Sie verpacken Dosen und dann Tuben. Sie packen in Kisten und Schachteln. Sie stellen Parfümfläschchen von einem Fließband auf ein anderes, sie schrauben Verschlüsse zu und stecken Kappen auf. Sie tragen verpackte Ware von einer Ecke einer Halle in die andere. Sie leisten schwere Fabrikarbeit wie Millionen Menschen.
Ich stehe morgens vor dem Finanzamt und denke an meine idyllischen Vorstellungen von Arbeit. Vielleicht deshalb der Spruch des Chefs. Auf den Chef wirke ich so, dass er mich darüber aufklären muss, dass Arbeit keine Hexerei sei. Wenn er mich sieht, ob vor dem Finanzamt oder an der scheppernden, ratternden Produktionsmaschine, glaubt der Chef, dass ich Arbeit für Hexerei halten könnte. Deshalb informiert er mich darüber, dass ich falschliege.
Es ist eine weiße, große Limousine. Sie sieht sehr schwer aus. Obwohl sie sich schnell nähert, scheint sie mit dem dunklen Belag der Straße fest verhaftet. Jede Unebenheit des Straßenbelages gleicht der Wagen geschmeidig aus, ohne dabei vom Boden abzuheben. Der Chef sitzt am Steuer, die linke Hand fest am schwarzen Lederlenkrad, die rechte auf seinem rechten Knie gelagert. Er sitzt aufrecht mit geradem Rücken, die Bodenunebenheiten scheint er im Wageninneren nicht zu spüren. Spätestens um fünf nach sieben Uhr rollt der Wagen die Straße zwischen Finanzamt und Altenheim herunter. Das Tempo der Limousine reduziert der Chef, nachdem die Leichtmetallfelgen die schwere Karosserie über die Straßenkuppe gleiten lassen, welche den steilen Anstieg hinauf auf den Hochstein markiert.
Auch heute steige ich wieder aufgeweckt, beinahe hastig zu, lasse mich in dem schwarzen Ledersitz nieder. Ich mag es nicht, morgens um diese Uhrzeit im schwarzen Ledersitz im schweren Wagen neben dem Chef zu sitzen. Ob er das merkt? Er spricht mich nicht darauf an. Im Wagen herrscht Schweigen. Der Chef sagt nicht: “Ich weiß das Sitzen in meinem Wagen im schwarzen Ledersitz, um diese Uhrzeit ist kein Vergnügen!”
Der Chef merkt mir nicht an, dass ich darüber nachdenke, wohin ich in seinem schweren Wagen sitzend, gemütlich zurücklehnend, um diese Uhrzeit fahren könnte. Der Chef bemerkt nicht, dass ich darüber nachdenke, wie das Sitzen in seinem Wagen für mich zu einem Vergnügen werden könnte. Er erkennt nicht, dass ich daran denke, in seinem Wagen nach Salzburg zu fahren. Ich will vorbei am Industriegebiet, am liebsten Richtung Meer, am besten gleich bis nach Griechenland. Mit diesem Ziel vor meinen Augen würde die Fahrt für mich zu einem Vergnügen werden. Ich stelle mir den schweren, gepflegten Wagen des Chefs auf einem sandigen Griechischen Campingplatz direkt am Strand vor. Ich berechne, bis wo hin ich in dem schweren Wagen komme, wenn ich morgens um sieben Uhr vor dem Berchtesgadener Finanzamt einsteige. Das Meer wäre leicht bis zum frühen Nachmittag erreichbar. Nicht das Griechische, sicherlich aber das Italienische. Der Chef sagt zu meinem Denken nichts.
„Die Gedanken sind frei“. Das ist der Liedtext, der mir dazu einfällt. „Wer kann sie erraten?“ Das ist die kurze Strophe, die ich als Kind in Berchtesgaden zu singen lernte. Tatsächlich begann ich damals, meine Gedanken in Freiheit zu trainieren. Ich stellte mir oft schöne bunte Wiesen vor, malte in Gedanken Bilder vom Sonnenuntergang oder wähnte mich hoch oben in den Wolken schwebend über dem Berchtesgadener Talkessel. In meinen Gedanken floh ich vor dem Leben, das ich in dem engen Tal und auf dem Obersalzberg erlebt habe. Wo für mich keine Sonne mehr schien, weil ich in mein Zimmer zum Stubenarrest geschickt wurde, malten meine Gedanken die Freiheit einer weiten bunten Landschaft.
Über was soll ich früh morgens reden, als sein Beifahrer auf den wenigen Kilometern, die sein Wagen eiligst verschlingt? Ich weiß es nicht. Ich sehe nach rechts durch das Wagenfenster hinaus. Dort sehe ich den wolkenumhüllten Obersalzberg, wie er vorbei fliegt. Unten sehe ich die reißende Arche. Braun und aufgewühlt vom vielen Regen rauscht sie unter der schweren Limousine mit den schwarzen Ledersitzen hindurch. Die Wischblätter gleiten langsam und regelmäßig über die Windschutzscheibe. Geräuschlos entfernen sie die Regentropfen. Die getönte Windschutzscheibe sieht makellos aus. Dicke Tropfen knallen auf das Glas wie tausend durchsichtige kleine Spiegeleier. Aus den tief hängenden, grauen Wolken stürzen sie herab, schlagen auf der Scheibe dieses makellosen Wagens auf. Sofort werden sie von dem riesigen Wischblatt beiseitegeschoben. Der Fahrtwind verteilt sie in schmalen Bahnen auf den Türen des schnellen Autos. Im Wageninneren spüre ich eine unwirkliche Makellosigkeit. Schnell wäre es mit dieser Sauberkeit und dem teuren Lederambiente vorbei, wenn ich am Industriegebiet vorbei führe, um eine wochenlange Reise nach Südeuropa anzutreten.
Leise surren Klimaanlage und Heizung. Draußen fliegt grüne Landschaft vorbei. Sie wird von der breiten, nass glänzenden Straße zerschnitten. Spritzwasser von den Breitreifen des Wagens verschmutzen die kleinen Gräser am Straßenrand. Ich stelle mir dieses unschöne Geschehen vor. Ich denke an kleine Blümchen und Grashalme stelle sie mir vom dreckigen Wasser aus Öl, Reifenabrieb und Bremsbelag besudelt vor.
Dunkle Regenwolken hängen tief über dem engen Tal. Die Sonne strahlt über den Wolken. Oben nahe der schwarzen Wolken, überfliegen viele Menschen das Tal. Ich stelle sie mir angeschnallt in ihren Sitzen vor. Sie lächeln, denn sie sind auf dem Weg in den Urlaub am Meer. Der Chef steuert den Wagen schwungvoll um die Kurve auf seinen Parkplatz vor der Fabrik. Über den Wolken wird ein Fluggast jetzt von einer Dame gefragt: “Do you want Coffe or Tee?”
Mich fragt der Chef nichts. Er weiß nicht, was ich denke. Er fährt jeden Morgen sehr schnell. Er will pünktlich in seiner Fabrik sein.
Plötzlich spricht er über die Reifen seines Wagens. Ich bin überrascht, fühle mich aber nicht angesprochen. Er spricht mit dem Reifenmonteur und dessen Chef. Beide sitzen aber nicht im Wagen. Der Chef ärgert sich über diese beiden und über die breiten Reifen an seinem Wagen, weil die laut surren. Die Reifen sind falsch montiert und sie haben viel Geld gekostet. Das ist ärgerlich und deshalb genügend Grund für den Chef, morgens um kurz vor halb acht darüber zu berichten.
Ich hasse die engen Umkleidekabinen. Dort stinkt es nach Schweißfüßen und Körpergeruch. Auch heute habe ich wieder kein frisches T-Shirt dabei. Deshalb ziehe ich das vom Vortag noch mal über. Es ist braun verschmiert von einer Tönungsgesichtscreme, die ich am Vortag in große Behälter abgefüllt hatte. Auch der Chef kleidet sich in der engen Kabine um. Täglich hat er ein neues, frisch gewaschenes, weißes T-Shirt. Er nimmt es von seinem Stapel auf einem Blechschrank. Ich glaube, dass der Chef seine Wäsche nicht selbst wäscht.
Vom Chef habe ich jeden Morgen mehrere Bilder in meinem Kopf. Sie entstehen, ohne dass ich beabsichtige, sie entstehen zu lassen. In seiner Fabrik arbeitet der Chef mit, wie jeder seiner Mitarbeiter. Er packt in der Produktion an und macht sich dabei Hände und Kleidung schmutzig wie jeder seiner Arbeiter. Aber, so zeigt es das Bild in meinem Kopf, zu Hause tut er das nicht. Dort sind die Rollen klarer verteilt. Seine Frau ist für die Wäsche und die Küche zuständig. Wegen meines Kopfes und den Bildern, die ich darin vom Chef finde, bin ich morgens von Tag zu Tag mehr und mehr verunsichert. Der Chef packt überall in der Fabrik mit an. Er reinigt die verdreckten Container und Tonnen von Resten der Cremes und Salben, mit nacktem Oberkörper bedient er den Hochdruckreiniger. Er steht in einem mannshohen Aluminiumbehälter und schrubbt. Deshalb entsteht in meinem Kopf viel Unklarheit über dessen Rolle in seiner Fabrik. Vielleicht will der Chef die Unklarheit? Ich glaube, er will kein Chef hinter einem großen Schreibtisch sein, wie jeder andere Chef. Er will zeigen, dass er die Dreckarbeit in seiner Fabrik kennt und nicht scheut.
Die Verwaltung seiner Firma erledigt er nebenbei, am Wochenende und abends. Tagsüber steht er in der Produktion und bedient Maschinen. So hat der Chef seine Produktion unter Kontrolle. So erkennt er täglich die Arbeitsleistung seiner Mitarbeiter und kann sie kontrollieren. Vermutlich deshalb fällt ihm bei meinem Anblick in der Produktion der Satz mit der Hexerei ein.
Der Chef arbeitet und kontrolliert. Ich glaube, der Chef denkt, dass dieser Stil ein kluger, moderner Zug von ihm ist. Er will nicht, dass ein Mitarbeiter seiner Fabrik glaubt, dass der Chef in seiner Firma etwas Besonderes ist. Doch dem Chef gelingt das nicht. Ein Blick auf mein Bild in meinem Kopf zeigt mir sofort, dass der Chef mit diesem Verhalten etwas zu verrücken versucht, was nicht zu verrücken ist: Er ist der Chef und damit ist er etwas Besonderes.
Weil er der Chef ist, nimmt er es sich in der Produktion heraus, jeden Facharbeiter an den Maschinen so zu unterstützen, wie er es für richtig hält. Er unterbreitet Vorschläge, die er am liebsten selbst umsetzt. Er fragt den Maschinenführer nicht, warum etwas nicht funktioniert, sondern er begründet, warum etwas gar nicht funktionieren kann. Er erklärt, dass etwas aus den und den Gründen und mit Sicherheit auch noch wegen der Tatsache, dass, … überhaupt nicht funktionieren kann. Der Chef greift zu Schraubenzieher und Schraubenschlüssel. Er greift in die Maschinen, er schraubt und dreht. Seine Hände sind mit Maschinenöl verschmiert. Der Chef kennt jede Maschine genau, schließlich hat er alle irgendwann beschafft. Was seine Mitarbeiter können, kann der Chef auch. Mit jeder Maschine hat er sich lange und intensiv befasst. Er bearbeitet seine Maschinen am Wochenende. Das tut er, damit montags die Produktion auf Hochtouren beginnen kann.
Der Chef führt einen Familienbetrieb und er ist begeistert davon. Seine Frau nennt die Firma sein Hobby, aber mein Bild in meinem Kopf zeigt mir deutlich: Die Firma ist sein Leben. Es begeistert den Chef zu sehen und zu hören, wie die Maschinen rattern und knattern und Hunderte gefüllte Dosen oder Tuben oder Pröbchen auswerfen. Den Inhalt, die Cremes und Salben mischt der Chef am Wochenende in riesigen Mixern. Manche Creme entspringt seiner eigenen Rezeptur. Der Chef hat viele Ideen. Es sind Tonnen, die nach jedem Wochenende auf ihre Abfüllung in Tübchen und Döschen warten.
Vor Jahren war das vielleicht tatsächlich eine Spielerei, sein Hobby, dem er an kleinen Maschinen zu Hause im Keller nachging. Inzwischen hat er eine Fabrik daraus gemacht, in der er Arbeitsplätze schafft. Das kann kein Hobby, keine Spielerei mehr sein. Mein Bild vom Chef wird langsam fertig: Es ist ein großer Verdienst! Eine riesige Sache, vielleicht sogar das wichtigste im Leben. Es ist etwas, das nur ich nicht kapiere. Arbeiten! Dazu braucht man Arbeitsplätze, wie sie der Chef in seiner Fabrik schafft. Arbeitsplätze, die ein Chef wie er auf seine Weise kontrolliert. Mein Bild ist endlich fertig: Der Chef gibt den Menschen in diesem Tal Arbeit und Brot, auch mir! Das wichtigste im Leben kommt vom Chef. Deshalb muss ich lernen zu denken: Nimm das endlich ernst! Konzentriere dich endlich darauf, hier in dieser Fabrik gut zu arbeiten! Denke nicht immer an was anderes, wenn es an die Arbeit geht! Das zu denken versuche ich heute in der Fabrik. Ich hämmere es in meinen Schädel. Es fällt mir schwer, denn es ist ein Denken, das nicht hinein will. Die Gedanken sind frei, doch während der Arbeit sind sie in der Fabrik, der Chef gibt sie vor. Arbeit ist keine Hexerei, wenn die Gedanken, die der Chef hat, dabei sind.
Der nächste Tag ist der erste Tag im Juli. Es ist der Tag, an dem ich die Arbeit in der kleinen Produktionsfabrik “für immer” beginne. So ist es mit dem Chef ausgemacht. Die Wochen im April, meinen geopferten Urlaub, nenne ich heute gegenüber dem Chef “positiv”. Ich kann mir gut vorstellen, in seiner Fabrik zu arbeiten. Nicht nur dies, ich erkläre dem Chef, ich wolle sogar gerne und langfristig bei ihm arbeiten. Das freut den Chef. Eigentlich ist es selbstverständlich, dass ich die lebensnotwendige Arbeit und das Geld vom Chef nicht ausschlage. Der Chef strahlt mich an, obwohl ich ihm anstatt selbstverständlichen Dank nur mein “positiv” anbiete.
„Für immer bleiben“ heißt bleiben, so lange das Arbeitsleben anhält. Ich kann mir das nicht wirklich vorstellen, obwohl ich es dem Chef zusichere. In meiner Kindheit gab es „für immer bleiben“ auf dem Obersalzberg in Berchtesgaden. Dort kamen Kinder aus deutschen Jugendämtern an. Sie wurden, wie ich, mit dem Ziel empfangen „für immer“ bleiben zu dürfen. Meine Kindheit war für mich, wie für jeden Menschen keine Zeit, die „für immer“ blieb. Doch damals begriff ich das noch nicht.
Wegen des verregneten Frühlings erwarte ich in diesem Jahr keinen Sommer. Durch die riesigen Fabrikfenster strahlt die Julisonne. Im ersten Stock der kleinen Firma wird es heiß.
Die Akkordarbeiterinnen stehen in weißen Kitteln an Transportbändern und schwitzen. Rechteckige, hellblaue Glasfläschchen kommen auf einem Förderband vorbei. Nicht einmal ein zehn Milliliter Rasierwasser werden von den Frauen schnell und geübt vom Fließband genommen. Auf den Sprühkopf der Fläschchen drücken sie kraftvoll einen goldfarbenen, dicken Plastikknopf. Die Fläschchen stellen sie in kleine Kisten, die sie mit Paketklebeband zukleben und auf einer Palette stapeln. Diese Tätigkeit beginnen die Frauen morgens um halb acht Uhr und beenden sie nachmittags um fünf.
Jahrelang hatte ich so getan, als wüsste ich nicht, dass in Deutschland noch so gearbeitet wird. Ich glaube, dass geringe Stückzahl und hoher Preis der Parfums und Rasierwasser, Cremes und Salben diese maschinenunterstützte Handarbeit möglich machen. Ich denke an Frauen in teuren Pelzmänteln. Adrett gekleidete Verkäuferinnen. In hell erleuchteten Parfümerien in der Münchner Innenstadt verkaufen sie die Fläschchen. Edle Fläschchen mit glänzenden Plastikköpfen finden in den Boutiquen gegenüber der Münchner Residenz reißenden Absatz. Sie glänzen in weißen Marmorbädern, sie finden weltweit auf großzügigen Ablagen in Badezimmern von Hotels platz.
“Das schafft Arbeitsplätze, deshalb ist es wichtig!”
Diese Überschrift nagle ich als Titel über mein Bild von der Tätigkeit des Chefs in meinen Kopf. Doch die Nägel halten nicht! Sie springen von selbst wieder heraus! Sie springen heraus, wie sich das ein Handwerker bei Abrissarbeiten auf einer Baustelle wünschen würde. Die Nägel hüpfen heraus, als wären sie schon alt und rostig. Sie fallen klirrend verbogen und unbrauchbar zu Boden. Das riesengroße und schwere Brett mit der Aufschrift: “… schafft Arbeitsplätze … wichtig!” kracht in meinem Kopf mit Getöse zu Boden und zerbricht. Warum?
Weil ich das nicht weiß, malt mein Kopf weiter. Er malt an einem neuen Bild. In dem Bild geht es um die Frage: Wieso genau dieser Arbeitsablauf in der Fabrik von Morgens bis Abends? Es entsteht ein Bild zu der Frage: Welchen Sinn sehe ich in dieser Arbeit? Ein riesiger Pinsel in meinem Kopf pinselt nervös und hastig an diesem Bild herum.
Der Chef erklärt mir alles. Er erklärt es, ohne dass ich ihn nach dem Sinn des Arbeitsvorganges, den die Akkordarbeiterinnen acht Stunden täglich zu verrichten haben, frage.
Die Arbeiterinnen stehen links am Fließband. Dort machen sie das: Einen Karton von der Palette heben, auf die linke Seite der Maschine tragen, den Karton mit dem Rasiermesser aufschlitzen, drei leere Fläschchen pro Hand herausheben und nebeneinander auf das Transportband stellen. Rechts am Fließband stehen andere Frauen. Sie machen das: Ein gefülltes Fläschchen vom Band nehmen, einen Plastikdeckel mit der linken Hand greifen und auf die Flasche aufsetzen, fest aufdrücken, danach Fläschchen in die Kiste neben dem Band stellen.
Der Chef erklärt den Sinn durch seine Begeisterung, wenn die Stückzahlen stimmen. Wenn die Maschinen reibungslos auswerfen, was verlangt ist und die Arbeiterinnen reibungslos drei Fläschchen vorne aufs Band stellen und die gefüllten Fläschchen hinten vorsichtig und flink zu stöpseln, dann lächelt der Chef. Er pfeift ein Liedchen. Er ist zufrieden. Das ist der Sinn! Das ist die Antwort auf meine Fragen in meinem Kopf! So sollte ich in meinem Kopf die Bilder malen! Wenn die Zahlen stimmen und die verpackten Kisten auf den Paletten bis zur Decke wachsen, ist für den Chef die Welt nicht nur in Ordnung, sondern dann ist sie richtig gut. Der Produktionstag ist sinnvoll und gut! Ich weiß es! Endlich kann ich aufhören zu denken!
Über das fertige Bild kommt die endgültige Überschrift auf einem großen Holzbrett: “Guter Produktionstag, gute Arbeitswelt!” Gerade als ich den letzten Nagel fein säuberlich in das schwere Holzbrett über meinem Bild in meinem Kopf schlage, beginnt der unterste Nagel schon wieder mit nervösen Drehbewegungen. Und obwohl ich noch mal fest auf den letzten Nagel einschlage, klirren die Nägel einer nach dem anderen wieder unbrauchbar zu Boden. Das Bild “Guter Produktionstag, gute Arbeitswelt” kann ich in meinem Kopf nicht fertig malen! Ich kann das Bild nicht mit seinem Titel versehen und in meinem Kopf einfach hängen lassen. Genauso wie die anderen Bilder bleibt es nicht an seinem Platz hängen, sondern stürzt zu Boden und zerbricht!
Weil das Bildermalen in meinem Kopf unerträglich zu werden droht, denn kein einziges der Bilder von der Fabrikarbeit gelingt mir, bekomme ich Angst. Tagelang geht es mir deshalb schlecht. Wie soll ich das Leben und die Arbeit beim Chef leben, ohne Bilder in meinem Kopf malen zu können, deren Titel passen und die hängen bleiben? Ich verschwende viel Energie für das Malen von Bildern, die nicht fertig werden können. Meine Kraft schwindet mehr und mehr, deshalb fühle ich mich krank. Deshalb glaube ich, dass ich mit dem Malen im Kopf aufhören muss. Es droht mich aufzuzehren. Ich versuche mich abzulenken, um nicht mehr an die unfertigen Bilder in meinem Kopf zu denken.
Die Ablenkung versuche ich, indem ich morgens beginne, mir die Landschaft vor meinem Fenster genauer anzusehen. Ich versuche die unfertigen Bilder in meinem Kopf durch die vorhandene Landschaft vor meinen Augen zu überpinseln.
Jeden Tag sehe ich sehr genau hinüber zum Betonpfeiler am Obersalzberg, gegenüber vom Hochstein, an dem ich wohne. Vom Frühstückstisch sehe ich den Obersalzberg mächtig auf der anderen Seite des Tals zum Himmel hinauf ragen. Der auffällige Betonpfeiler befindet sich etwa auf halber Höhe des Berges. Durch mein Fernglas erkenne ich, dass der Wald dort auf einem erheblichen Stück gerodet ist und ein eigener Zufahrtsweg zu dem Betonmasten führt.
Die Nebelschwaden ziehen auch im Juli morgens durch das Tal, sie sind aber viel dünner als im April und lösen sich, vom Watzmann kommend, kurz vor dem Obersalzberg auf. So habe ich täglich klare Sicht hinüber. Tatsächlich zeigt mein Ablenkungsversuch Wirkung. Schon nach zwei Tagen male ich in meinem Kopf keine unvollendbaren Bilder mehr vom Chef und der Arbeit in der Fabrik.
Nach einer Woche, jeden Morgen habe ich diesen Berg vor meinen Augen, glaube ich daran, dass es der Berg sein könnte, den ich wiedersehen wollte. Mein Denken über die Fabrikarbeit, das Finanzamt, das Altenheim, die Fahrt im Wagen des Chefs, mein Schweigen neben dem Chef: Alles reine Ablenkung von diesem Berg, von diesem Ort, von meiner Vergangenheit hier.
Am achten Morgen im Juli, um zwanzig Minuten nach sechs Uhr, denke ich, dass es kein Zufall sein kann, der mich in diesen Ort zurückführt, und dass es vielleicht auch kein Zufall ist, dass ich ausgerechnet so wohne, dass ich jeden Morgen ab sechs Uhr aufgefordert bin, weil ich keine unvollendbaren Bilder mehr im Kopf malen will, an meine Vergangenheit auf diesem Berg und in diesem Ort zurückzudenken.
Am neunten Morgen im Juli denke ich überhaupt nicht mehr an den bevorstehenden Arbeitstag. Die Arbeit ist so langweilig und eintönig, dass sie meine Gedanken nicht weiter beschäftigt. Ich habe meine sichere Stellung in der Stadt aufgegeben, für eine Arbeit, die mich schon am neunten Morgen nicht mehr beschäftigt? Eigentlich Wahnsinn, aber darüber denke ich am neunten Julimorgen nicht länger nach. Was in der Fabrik auf mich zukommt, jeden Tag, weiß ich genau. Es ist nicht spannend, nicht interessant, sondern langweilig, aber sehr anstrengend.
Abends schmerzen mir Füße und Rücken. Wäre ich wegen der monotonen Arbeit abends nicht so abgearbeitet und müde, so denke ich am neunten Morgen, könnte ich mit dem Schreiben abends beginnen. Doch das ist wegen der anstrengenden Fabrikarbeit nicht möglich. Vielleicht können andere Menschen nach einem Tag monotoner Fabrikarbeit abends noch geistig arbeiten, ich kann es nicht. An manchem Abend bin ich so müde, dass ich schon um halb sechs Uhr auf dem grauen Sofa mit Blick hinüber zum Obersalzberg einschlafe. Meine Augen fallen zu, die Zigarette fällt mir aus den Fingern und brennt ein Loch in den gemieteten Teppich. Das ist mein Leben an den Tagen nach lautem eintönigem Maschinenlärm. Es ist meine Unfähigkeit, nach einem langen Fabriktag noch wach zu bleiben und zu denken.
Es gibt einen Grund für meine Rückkehr in diesen Ort, aber wegen der anstrengenden Fabrikarbeit kann ich abends, wenn Zeit dazu ist, nicht weiter über meine Rückkehr in dieses Tal und meinen täglichen Blick auf den Berg nachdenken. Über diesen Sinn der Fabrikarbeit ärgere ich mich nach dem zehnten Arbeitstag. Ich ärgere mich über Logik in meinem Alltag. Nach einem monotonen, anstrengenden Arbeitstag tue und denke ich nicht mehr viel. Das finde ich am Abend des zehnten Arbeitstages gemein.
Ich sitze auf dem grauen Sofa. Ich spüre, dass mein Kopf nicht mehr denken kann. Selbst mit starkem Kaffee gelingt es nicht. Ich bleibe zwar wach, aber ich kann nicht vernünftig denken. Eigentlich will ich wieder einschlafen, wie an den vergangenen Abenden nach der Arbeit. Doch das verhindert nun der starke Kaffee.
Jetzt beginnt mein Kopf wieder Bilder zu malen. Ein Titel heißt: “Nach einem guten Produktionstag: Dumm sein und schlafen!” Das schwere Brett mit diesem Titel bleibt hängen. Es kracht nicht wie seine Vorgänger herunter. Die Nägel für diesen Bildertitel halten. Endlich ein vollendetes Bild in meinem Kopf.
Am zehnten Abend, auf dem grauen Sofa im Zimmer an der Hochsteinstraße bleibe ich wach. Wegen einer starken Tasse Kaffee male ich in meinem Kopf ein fertiges Bild. Ich verstehe, dass ich nach Berchtesgaden nicht nur wegen der Fabrikarbeit und des Chefs zurückkomme. In beeindruckender Klarheit sehe ich täglich den Obersalzberg vor meinem Fenster. Der Grund für meine Rückkehr liegt an diesem Berg in diesem Ort. Hier habe ich noch etwas zu erledigen.
Ich bin Fabrikarbeiter. Täglich wird mein Denken von der Monotonie und Langeweile dieser Arbeit behindert. Das Bild von diesem Berg, von diesem Ort thront vor den Augen des Fabrikarbeiters. Dieses Bild schüttelt den müden Fabrikarbeiter wach. Es beflügelt sein Denken, es rüttelt ihn auf. Das Bild führt einen Kampf zwischen willen- und mutlos machender, monotoner Fabrikarbeit und dem verschütteten Willen des Fabrikarbeiters. Dessen Wille möchte unbedingt eine verborgene Erinnerung hervorkramen.
5. Ausflug
Am Morgen des zehnten Arbeitstages sitze ich schon um fünf Uhr am Frühstückstisch. Das tue ich, weil ich glaube, dass es die Stunde ist, in der ich am klarsten denken kann. Ich bin zwar noch sehr müde, aber ich bin noch nicht aufgearbeitet vom monotonen Fabriktag.
Ich will mich auf ein Experiment einlassen, denn ich bin überzeugt, dass ich gefunden habe, was mich hierher zurückgeführt hat. Etwas von meinem Leben, das vor Jahren an diesem Berg geschehen war, soll durch meinen Kopf wandern. Diesen Teil meines Lebens hält mein Kopf tief unten verborgen. Das soll jetzt ausgegraben werden. Es muss jetzt geschehen, bevor die Jahre meine Erinnerung mit neuen Erlebnissen derart überlagern, dass es mir unmöglich wird, die Erinnerungen festzuhalten.
Was verbindet mich mit diesem Berg und diesen Ort? Ich stamme nicht aus dieser Gegend, ich bin nicht einmal ein Bayer. Trotzdem verbringe ich viele Jahre hier im Ort und auf diesem Berg. Es ist in den Siebzigerjahren. Ich bin Zwangsgast in den zwei Häusern am Oberlehen, oben auf dem Obersalzberg. Dort verbringe ich meine Kindheit. Auf unbestimmte Zeit lebe ich dort. Vielleicht bleibe ich bis zur Volljährigkeit, so sagt es mir die alte Heimleiterin.
Das Kinderheim am Oberlehen liegt etwa auf halber Höhe des Berges. Es besteht aus zwei alten Häusern und einen sauber gerechten Hof mit einer riesigen Eiche. Hinter dem Oberlehen gibt es steile Hänge und Wiesen und oben den Wald, unseren riesigen Spielplatz. Das Oberlehen besteht aus zwei einstöckigen Gebäuden, dem Haupthaus und dem Nebenhaus. Große Teile meiner Kindheit lebe ich in diesen beiden Häusern. Heute gibt es die beiden alten Häuser nicht mehr. Stattdessen stehen dort zwei Neubauten.
Ich erreiche das neue Oberlehen über die steile Bergstraße. An der Station Erika lenke ich den Wagen nach rechts und fahre über die kleine Brücke, unter der die Rodelbahn hindurch führt. Ich erkenne die Gegend, doch alles sieht verändert aus. Nicht nur die Straße ist neu geteert, auch die wenigen alten Häuser am Straßenrand muss ich aufmerksamen Blickes suchen. Die Pension finde ich versteckt zwischen vielen Neubauten.
Die graue Mauer am Straßenrand ist noch da. Immer noch hält sie den Berg davon ab, auf die Straße zu stürzen. Am Ende der Mauer biege ich links ab. Jetzt sehe ich die beiden neuen Häuser, das neue Oberlehen. Ich fahre nicht bis vor das erste Haus. Den Wagen wende ich in einiger Entfernung der beiden Gebäude.
In diesem Moment verspüre ich Lust, den Wagen direkt auf dem Vorplatz am ersten Haus abzustellen, tue es aber nicht. Ich erinnere mich an mein Spiel vor etwa zwanzig Jahren auf diesem Vorplatz vor dem alten Haupthaus. Dort hatte der Buchhalter den weißen Porsche und der Heimleiter seinen grünen Opel Rekord geparkt. Damals hatte ich sehr oft auf diesem Vorplatz zwischen deren Autos gespielt.
Ich bin elf oder zwölf Jahre alt. Ich sitze in einem roten Kettcar. In meiner Fantasie ist ein Kettcar ein echtes Auto. Mit meinem Fantasieauto fahre ich vor meinem Kinderheim vor. Ich fahre rasant mit laut brummendem Auspuff. Ich fahre, wie es der Buchhalter Büchtler, er ist Stellvertreter des Heimleiters, jeden Morgen tut. Meinen Sportwagen, das Kettcar, parke ich zwischen den Wagen des Heimleiters Hennings und den des Buchhalters Büchtler. In meinem Fantasiespiel komme ich als Besucher in das Oberlehen. Ich wohne nicht dort, sondern ich reise aus der Stadt hinauf in das Kinderheim am Obersalzberg. Dort besuche ich meinen Sohn. Das ist selbstverständlich. Ich komme am Wochenende und in den Ferien, um meinen Sohn zu sehen.
In meinem Spiel tue ich das sehr oft, mindestens wöchentlich. Es ist selbstverständlich, dass ich meinen Sohn da oben wöchentlich besuche, denn damals weiß ich, dass er “für immer” dort leben soll, weil er bei mir nicht mehr leben kann. Ich besuche ihn, um zu erfahren, wie es ihm geht, um sicherzustellen, dass es ihm gut geht. Wenn ich sehe, dass es ihm schlecht geht, spreche ich mit dem Leiter und dem Buchhalter darüber. Hennings und Büchtler haben mir in meinem Fantasiespiel nichts zu befehlen, denn ich bin erwachsen. Deshalb grüße ich die beiden nur beiläufig. Ich sage: “Grüß Gott, die Herren!”
Dann betrete ich in das Haupthaus, gehe hinauf in das Zimmer meines Sohnes. Der freut sich und lacht, weil ich schon wieder zu Besuch komme. Er zieht seine Jacke über, wir beide gehen die Treppe hinunter und verlassen das Haus. Wir steigen in mein Fantasieauto. Den Wagen wende ich schwungvoll und laut dröhnend. So wie Büchtler es jeden Tag mit seinem Porsche tut, donnere ich in meinem Fantasiespiel im Kettcar zusammen mit meinem Sohn die abfallende Bergstraße hinunter. Mit meinem Sohn unternehme ich einen Ausflug in den Markt Berchtesgaden, anschließend gehen wir zusammen in die Berge.
In Berchtesgaden scheint es mir stets wichtig, zunächst genau zu suchen, ob nicht am Rand eines Grundstücks der Hinweis auf ein Privatgelände steht, der das Betreten verbietet. Ich bleibe deshalb im Wagen vor dem neuen Oberlehen sitzen. Durch die Windschutzscheibe sehe ich den Vorplatz meines ehemaligen Zuhauses. Ich suche ein Verbotsschild und finde keines. Deshalb steige ich aus. Ich gehe langsam einige Schritte, nähere mich dem Vorplatz am neuen Oberlehen. Auf dem geteerten Platz bleibe ich stehen. Ich betrachte die beiden neuen Häuser und die Wiesen hinter ihnen.
Der steile Hang hinter den beiden Häusern sieht nahezu unverändert aus. Es ist die Wiese, auf der wir täglich gespielt haben und im Winter Schlitten fuhren. Sie ist noch nicht mit neuen Häusern verbaut. Die beiden neuen Häuser interessieren mich nicht, denn es sind nicht mehr die, in denen wir Kinder gelebt haben. Deshalb liegt mein Blick nur kurz bei ihnen. Sie sind modern und hässlich. Moderne bayerische Rustikalität. Es ist die Bauweise der neunziger Jahre in Berchtesgaden. Das neue Haupthaus wirkt verschachtelt, vielleicht um keine Langeweile beim Anblick entstehen zu lassen. Die Fensterrahmen sind aus Aluminium.
Am Hang hinter dem Haupthaus steht die Holzhütte, in der die Ponys des Heimleiters standen. Sie wurde neu errichtet, an der selben Stelle auf der Wiese wie damals. Jetzt gehe ich einige Schritte in die Wiese. Ich halte an der Stelle, wo wir früher im Sandkasten gespielt haben. Von hier aus sehe ich oberhalb auf der Wiese die kleine Bretterhütte. Es ist noch der gleiche Bretterverschlag, der uns vor zwanzig Jahren als Ranch der Cowboys gedient hatte. Damals wurde der Verschlag regelmäßig von den Indianern überfallen.
Das Gehege an dem steilen Hang, in dem der Heimleiter Rehe gehalten hatte, ist verschwunden. Beide Häuser beherbergen heute Berchtesgadener Familien. Ein Fenster öffnet sich. Eine Frau lehnt sich heraus. Sie ruft:
“Wos woins denn hier?”
Weil ich nicht recht weiß, was ich will, fällt mir nur der schöne Ausblick ein. Es ist die herrliche Sicht hinüber zum Untersberg, die ich aus meiner Kindheit kenne. Deshalb sage ich:
“Eigentlich gar nichts, es ist nur der wunderschöne Ausblick von hier oben!”
Mit meiner Antwort ist die Frau nicht zufrieden. Sie ignoriert sie einfach und fragt:
“Wen suachans denn?”
Ich verstehe, dass die Frau nicht versteht, dass ich nur den Ausblick genieße. Deshalb antworte ich:
“Ich suche niemanden, ich hab mich verfahren. Ich finde schon wieder runter nach Berchtesgaden. Danke schön auf Wiedersehen!”
Weil ich einer fremden Frau nicht erklären möchte, dass ich mein ehemaliges zu Hause suche, laufe ich schnell die wenigen Schritte zurück zum Wagen. Ich steige ein, starte den Motor und rolle langsam an den Neubausiedlungen vorbei, bis zur steilen Straße, die mich hinunter in den Markt führt.
Am nächsten Morgen sitze ich um fünf Uhr auf dem Stuhl vor meiner alten Schreibmaschine. Ich tippe meinen Besuch beim neuen Oberlehen. Die Erinnerung an das alte Oberlehen fällt mir dabei schwer. Ich hatte gehofft, durch meinen Besuch am neuen Oberlehen meine Erinnerung an mein Leben im alten Oberlehen zu beflügeln. Deshalb war ich abends nach dem elften Arbeitstag ungeachtet meiner Müdigkeit der steilen Straße hinauf auf den Obersalzberg gefolgt. Auf die bayerische Frau, die das neue Aluminiumfenster geöffnet hat, war ich nicht vorbereitet. Jetzt denke ich, dass es nur verständlich war, dass ich diese Frau dort traf. Sie sei die Besitzerin, hatte sie noch gerufen, als ich in den Wagen stieg. Und dass das Betreten der Wiese verboten sei, weil es Privatgelände wäre.
Was habe ich anderes erwartet in Berchtesgaden? Hoffe ich, die Kinder wieder zu treffen, mit denen ich da oben gelebt habe? Da hätte ich zwanzig Jahre früher kommen müssen. Mit einer bayerischen Hausbesitzerin in einem Aluminiumfensterrahmen habe ich nicht gerechnet. Ganz schön naiv. Ich bin in der Stimmung, mich auf meine Erinnerung einzulassen. In mein Bild davon passt keine Berchtesgadener Neubaubesitzerin.
6. Alltag
Die Fabrikarbeit interessiert mich am zwölften Arbeitstag überhaupt nicht mehr. Ich arbeite an einer Abfüllmaschine. Die Maschine füllt ein grün gefärbtes Duschbad in lange Plastikflaschen. Der Chef arbeitet wenige Meter entfernt an einer anderen Maschine. Seine Maschine füllt in milchfarbige Glasfläschchen durchsichtiges Parfum das eine Münchner Firma für viel Geld an die Frau und den Mann bringt. Wie jeden Tag stehen die Akkordarbeiterinnen in ihren weißen Kitteln am Ende der Transportbänder. Sie nehmen die befüllten Fläschchen vom Förderband und stecken goldfarbene Plastikstopfen auf die Sprühköpfe. Die Fläschchen verpacken sie in Pappschachteln, die sie auf bereitstehende Paletten stapeln. An meiner Maschine stehen andere Frauen. Sie verschrauben die befüllten Duschbadflaschen. Sie leisten ihre alltägliche Akkordarbeit. Die Frauen arbeiten sehr genau. Schon ein minimaler Fehlgriff hat sehr unangenehme Auswirkungen. Kippt nur eine Flasche auf dem Band um, verschmiert die Flüssigkeit das Förderband und alle anderen Flaschen. Die Produktion muss gestoppt werden, das gesetzte Tagesziel wird unerreichbar. Der Chef arbeitet an der Maschine nebenan. Er sagt nichts aber beobachtet alles.
Mich interessiert das heute nicht mehr. Ich denke weder an Hexerei noch an den Sinn dieser Arbeit. Ich hebe große aber leichte Pappkisten von einem hohen Stapel. Ich schneide sie mit einem scharfen Messer auf, nehme vier längliche Plastikflaschen auf einmal heraus und stelle sie auf das Förderband. Wirft eine Akkordarbeiterin versehentlich eine gefüllte Flasche um, drücke ich sofort den roten Knopf. Das Förderband und die Abfüllmaschine stehen dann still. An diese Arbeit denke ich nicht. Ich tue sie von morgens um halb acht bis nachmittags um fünf Uhr. Ich denke an das Oberlehen in halber Höhe am Obersalzberg. In meinem Kopf sehe ich es unterhalb des neuen Betonpfeilers, der heute für guten Empfang im Tal sorgt.
Am zwölften Fabriktag bin ich endgültig überzeugt, dass ich nicht wegen der monotonen Arbeit im idyllischen Tal bin. Ich komme nicht, um mir meiner utopischen Vorstellungen über Arbeit und Leben bewusst zu werden. Ich bin hier, um ein winziges Stück meines Lebens am Oberlehen auf dem Obersalzberg, wie ich es vor beinahe zwanzig Jahren erlebt habe, nicht verloren gehen zu lassen. Die Fabrik ist der Vorwand dafür, dass ich mich in diesem Ort aufhalte.
Morgens um fünf Uhr, vor meiner alten Schreibmaschine, weiß ich am zwölften Tag, dass es notwendig ist, dass ich zwischen fünf und sechs Uhr morgens aufschreibe, was ich noch zurückholen kann. Ich muss versuchen, die Tageszeit der Klarheit am Morgen zu nutzen, um festzuhalten, was sich in meinem Gedächtnis noch findet. Ich kenne mein Gedächtnis und weiß, dass mir die genaue Erinnerung an lange Vergangenes immer schwerer fällt, je mehr Jahre vergehen. Deshalb bin ich heute hier. Zwanzig Jahre sind vergangen, mehr Zeit soll nicht verstreichen.
Ein Sinn dieser Fabrikarbeit ist es, tagsüber zu arbeiten, um beschäftigt zu sein. So kann ich eine einleuchtende Antwort auf die Frage geben, warum ich an diesem Ort anwesend bin und was ich den Tag lang tue. Werde ich auf der Straße im Ort von alten Bekannten gefragt, was ich in Berchtesgaden tue, so arbeite ich in dieser Fabrik. Tagsüber bin ich mit Arbeit beschäftigt, das verstehen die alten Bekannten. Deshalb bin ich gekommen. Arbeit ist die beste Begründung, denn sie ist ein Muss. Von meinem Schreiben, morgens zwischen fünf und sechs Uhr, erzähle ich keinem meiner alten Bekannten auf der Straße:
“Ich bin zurückgekommen, um zu arbeiten. In der Fabrik, im Industriegebiet Richtung Salzburg, gibt es viel zu tun. Deshalb bin ich hier. Vielleicht werde ich bleiben und mich hier niederlassen.”
Das ist eine sehr gute Erklärung. Damit ernte ich zufriedene Blicke. Meine Sprache verstehen die alten Bekannten im Markt Berchtesgaden. Würde ich erklären, dass ich hier sei, um an das Oberlehen zu denken und alles aufzuschreiben, was mir dazu heute, beinahe zwanzig Jahre später noch einfällt, wäre deren Verwirrung perfekt. Ich würde höchstens ein mitleidiges Lächeln ernten.
Das alte Oberlehen interessiert die fragenden Bekannten auf der Straße nicht. Es ist vergangen, viel zu lange ist alles schon her, um noch irgendjemanden zu interessieren. Und außerdem, so kommt es mir heute Morgen, ich verlasse gerade das Haus an der Hochsteinstraße und laufe die steil abfallende Pflastersteinstraße langsam hinunter, es ist ja nur meine Vergangenheit. Warum sollte jemand in dem Ort verstehen, dass ich deshalb zurück komme?
Von der steilen Hochsteinstraße aus, sehe ich leuchtenden Schnee auf dem fernen Gipfel des Watzmanns. Zwei kleine Schäfchenwolken treiben sich in der Nähe des Gipfels herum. Ein sommerlicher, klarer Julitag in Berchtesgaden steht bevor. Ich sehe noch einmal hinauf zum Watzmann, bevor ich die Kehre unten, an der Hochsteinstraße zur Nonnenstraße erreiche. Dort drossele ich meinen Schritt, um Autos mit Berchtesgadener Nummernschildern vorbeifahren zu lassen. Ich warte einige Minuten, denn eine lange Autoschlange fährt morgens, um kurz vor sieben Uhr, auf der engen Straße durch das Nonntal. Nach einem roten Kleinwagen und vor einer, vom Rathaus herannahenden, weißen Limousine laufe ich schnell über die Straße. Heute ist es ein schneller Stechschritt, in dem ich dem gelben Finanzamt entgegen strebe. In diesem Tal, so denke ich während ich schneller und schneller werde, ist es nicht besonders sinnvoll, die Fragen der Bekannten nach dem Grund meiner Rückkehr mit dem Satz: “Ich beschäftige mich mit meiner Vergangenheit in diesem Ort”, zu beantworten.
Viel wichtiger ist es, auf die Fragen alter Bekannter zu antworten, dass ich mich mit den Dingen der Gegenwart, wie der täglichen Fabrikarbeit, beschäftige. Arbeit brauche ich täglich, um zu leben. Wegen meines schnellen Stechschrittes und wegen meiner Gedanken, laufe ich auf dem Gehsteig Richtung Finanzamt einfach weiter. Ich frage mich gerade: Warum will ich an meine Vergangenheit denken und nicht an das tägliche Geld und Brot, das ich brauche? Da erkenne ich den lächelnden Chef am Steuer des Wagens neben mir. Ich verliere den Gedanken und steige zu.
Das gelbe Finanzamt fliegt rechts an mir vorbei. Der Tacho zeigt schnell fünfzig Kilometer an. Im Altenheim gegenüber dem Finanzamt sind die Vorhänge alle schon zugezogen. Ich glaube Tätigkeiten, die als Begründung für meine Anwesenheit in diesem Ort dienen, müssen einfach gegenwartsbezogen sein, um bei den alten Bekannten aus meiner Schulklasse und auch beim Chef auf Verständnis zu stoßen.
Ich lehne mich neben dem Chef ins Leder. Der Wagen rollt den Nonntalberg hinunter. Unten an der Kreuzung, gegenüber der schnell fließenden Arche, biegt der Wagen schwungvoll nach links Richtung Salzburg ab. Die Sonne geht gerade ganz hinten in dem langen, engen Tal über Markt Schellenberg auf. Ich denke kurz daran mit dem Chef über mein Thema zu sprechen. Das tue ich nicht.
Wir sprechen über das wunderbare Wetter. Minuten später, der Chef setzt den Blinker nach links und überquert die Arche hinüber zum Industriegebiet, ist es mir unangenehm überhaupt daran gedacht zu haben, den Chef in meine Art zu Denken, in mein Thema, in mein Projekt, über meine Vergangenheit am Oberlehen zu schreiben, einzuweihen. Für den Chef, so erlebe ich es täglich, ist das wichtigste im Leben die tägliche Arbeit. Die tägliche Gegenwart ist es, so denke ich, während ich dessen Firma betrete, die den Chef in erster Linie interessiert. Nur dessen tägliche Arbeit in der Gegenwart bringt den Chef soweit, zu produzieren und Mitarbeiter in Geld und Brot zu bringen.
Die tägliche Gegenwart kann ich gegenüber dem Chef jederzeit ansprechen. In sie lohnt es, Arbeitszeit und Kraft zu investieren. Was ich täglich zwischen fünf und sechs Uhr morgens tue, hat, gemessen an den Maßstäben der täglichen Arbeit in der Firma des Chefs, keinen Wert. Das erkenne ich heute Morgen, während ich in der engen, stinkenden Umkleidekabine ein frisches T-Shirt über ziehe. Weil der Chef sein Leben und das anderer Menschen an der täglichen Arbeit misst, kann ich mein Thema unmöglich mit ihm besprechen.
Ich arbeite in der Hitze im ersten Stock an einer lärmenden Abfüllmaschine und denke, dass mein Thema unproduktiv ist, denn es ist lange vergangen und spielt deshalb heute für niemanden eine Rolle, außer für mich.
7. Amerikaner
Meine Geschichte, an der ich von diesem Morgen an, täglich um fünf Uhr schreibe, hat mit der jüngsten historischen Rolle des Obersalzbergs nichts zu tun. Trotzdem fällt mir zuerst diese unrühmliche Rolle ein. Die Vergangenheit dieses Berges ist für mich nicht zuerst wegen meiner eigenen Vergangenheit unrühmlich, sondern wegen der Nazis, die sich den Berg nahezu vollständig angeeignet hatten, die auf ihm residierten, hohe Politiker empfangen hatten, und von ihm aus Massenmord, Krieg und Vernichtung betrieben.
Daran denke ich, denn dieser Tage erreichen mich mehr und mehr die Berichte des Krieges aus dem zerfallenden Jugoslawien. In ihm werden grauenvolle Tötungen verübt, Folter und Vergewaltigung als demoralisierende Kriegsverbrechen gezielt eingesetzt, die von der UN nicht verhindert werden können. Das Grauen erinnert mich daran, dass meine Geschichte eine harmlose ist, und es nährt den Gedanken, dass ich sie weiter verharmlosen könnte. Doch das gelingt mir nicht, denn sie drängt sich auf, weil es meine Vergangenheit ist, die ich nicht abspalten und ruhen lassen kann. Meine Geschichte am Oberlehen auf dem Obersalzberg beginnt fünfundzwanzig Jahre nachdem britische Bomber am 25. April 1945 den Obersalzberg erfolgreich bombardiert hatten, sie beginnt im Jahr 1970.
Das Oberlehen liegt etwa vierhundert Höhenmeter unterhalb des, von den Amerikanern renovierten und jahrelang als Hotel genutzten, ehemaligen Platterhofes. Es ist die Präsenz der Amerikaner an diesem Berg, weshalb ich seine Nazivergangenheit in meinem Bericht, morgens zwischen fünf und sieben Uhr, nicht unerwähnt lassen will.
Die Amerikaner erleben wir Kinder damals täglich. Riesige amerikanische Limousinen, Kleinbusse, Transporter und amerikanische Pendelbusse fahren täglich zwischen den US-Einrichtungen im Tal und dem General – Walker – Hotel am Obersalzberg, hin und her. Als kleiner Junge und noch als Jugendlicher finde ich den Anblick dieser riesigen Wagen toll. Ich interessiere mich für Autos. Ich spiele jeden Tag mit Matchboxautos auf dem Teppichboden im Aufenthaltsraum und draußen im Sandkasten. Amerikanische Modelle sind in den siebziger Jahren für mich sehr schwer zu kriegen. Deshalb ist es ein großes Erlebnis, die US-Wagen auf der Straße am Obersalzberg täglich zu sehen.
Im Fernsehen gibt es noch kein großes Angebot an amerikanischen Filmen, in denen solche Autos vorkommen. Das glaube ich zumindest, weil ich als zehnjähriges Kind im Kinderheim am Oberlehen wenige amerikanische Filme und Serien im Fernsehen sehe. Vielleicht gibt es die Filme und ich weiß das nur nicht. Abends auf der Mattscheibe sehen wir damals Hitparade oder Disco. Wir sehen die Stars, die Ilja Richter und Dieter Thomas Heck vorstellen. Das lenkt mich von meinem Kinderheimalltag ab. Amerikanische Wagen sehe ich nicht auf der Mattscheibe, sondern ich sehe sie täglich auf der Straße.
Heute, beinahe zwanzig Jahre später, morgens um sechs Uhr in der Wohnung an der Hochsteinstraße, wird mir klar, dass die Amerikaner eine gute Erinnerung an mein Leben am Oberlehen sind. Kurz bevor ich von meiner braunen Schreibmaschine aufstehe, um fünf nach sechs Uhr, fällt mir wieder ein, dass es mich damals immer gefreut hatte, wenn mir die Amerikaner aus ihren Limousinen zuwinkten und zulächelten.
Samstagmittags, kurz vor zwölf Uhr, überqueren die Kinderheimkinder vom Oberlehen auf der Schießstättbrücke die Arche in Berchtesgaden. Die Bergstraße führt kurz nach der Brücke um eine enge Kurve. Die Steigung ist am Straßenrand mit 24 Prozent angegeben. Wir marschieren auf der linken Straßenseite auf der Salzbergstraße hoch auf den Obersalzberg. Unser Ziel ist unser Zuhause, nahe der Bushaltestelle Station Erika.
Wir grüßen alle entgegenkommenden amerikanischen Fahrzeuglenker mit dem Victory – Zeichen. Deshalb lachen und winken die Fahrzeuglenker. Ich grüße mit diesem Zeichen, obwohl ich dessen Bedeutung nicht kenne. Ich mach es den älteren Heimkindern einfach nach. Auf unserem steilen Fußweg winken uns die Menschen aus ihren riesigen amerikanischen Autos jahrelang zu. Ich grüße die Fahrer mit diesem Zeichen, weil ich mich über deren Lachen freue und darüber, dass es viele erwachsene Männer sind, die uns hinter ihren Windschutzscheiben täglich so freundlich zulächeln. Ich glaube, alle Heimkinder tun das, wegen des freundlichen Winkens und Lächelns der Männer.
Wegen der lächelnden winkenden Amerikaner, und der täglichen Kinder aus dem Oberlehen, die nachmittags von der Schule hinauf laufen, und die Amerikaner in ihren großen Wagen freundlich grüßen, gibt es eines Tages ein Kinderfest, zu dem die Amerikaner eine Gruppe aus dem Oberlehen, in das General – Walker – Hotel auf dem Obersalzberg einladen.
Heute Morgen sitze ich schon wieder zu lange vor meiner Schreibmaschine. Es ist bereits Viertel nach sechs Uhr, als ich meinen Bericht beende. Morgens schalte ich das Radio nicht mehr ein. Ich will die schrecklichen Berichte aus dem Krieg im zerfallenden Jugoslawien nicht hören. Stattdessen denke ich während des Frühstücks über meine Erinnerungen nach. Ob es gute Kontakte gewesen waren, die sich zwischen dem Oberlehen und den Amerikanern entwickelt hatten? Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nur an eine einzige Einladung der Amerikaner.
Der Chef ist heute Morgen gut gelaunt, wie jeden Tag. Im Auto spricht er von einem “Traumsommer”. Ich stimme zu. Der Himmel ist jeden Tag strahlend blau. Die Sicht auf die Berge um das Tal ist täglich klar. Wälder und Wiesen stehen in sattem Grün vom Regen des Frühjahres.
In der kleinen Fabrik steht die Hitze. Mit Hochdruck arbeiten wir an großen Aufträgen von Parfümherstellern mit internationalem Bekanntheitsgrad. Seit Tagen leisten wir Überstunden, welche die Mitarbeiter selbstverständlich freiwillig leisteten. Morgens trägt sich auf einer Liste ein, wer Abends länger bleiben kann. Auch ich trage mich ein, denn ich will, dass Kollegen und Chef wissen, dass auch ich tatkräftig anpacke, wenn es gefragt ist. Ich arbeite daran, das Bild von der Hexerei zu zerstören. Die anstrengende Arbeit spüre ich täglich in meinem Rücken. Wegen der langen Arbeitstage schlafe ich nachts wie ein Stein.
Morgens wird das Aufstehen von Tag zu Tag schwerer. Mein Wecker läutet um Viertel vor fünf. Wie ein Brett liege ich matt im Bett. Ich bleibe nach dem Weckerläuten liegen, schlafe wieder ein und wache nur durch einen Zufall um kurz vor sieben Uhr auf. Der Chef sieht mir meine Müdigkeit nicht an. Eines Morgens sitze ich unrasiert neben ihm im Wagen. Ich wache um zehn vor sieben Uhr auf, stehe aber pünktlich um sieben Uhr vor dem Finanzamt und steige in den Wagen.
Eine Gruppe Kinder ist zu einem amerikanischen Kinderfest eingeladen. Im General – Walker – Hotel, oben an der breiten Höhenringstraße, gibt es an diesem Nachmittag jede Menge Süßigkeiten. Es sind Süßigkeiten, die ich noch nie gesehen habe. Orangen, rosa, grüne, blaue und bunte Torten. Kleine gefärbte Cremetörtchen und natürlich die klassischen Amerikaner.
“Alles total amerikanisch, echt super die Amis!”
So plärrt mein Freund Peter auf dem ersten und einzigen dieser Feste, an das ich mich erinnere. Wir sitzen gemeinsam mit anderen Kindern vom Oberlehen und vielen amerikanischen Kindern um einen riesigen Tisch mit weiß-blauer Papiertischdecke. Heute lernen wir die Kinder der lächelnden und winkenden amerikanischen Autofahrer kennen. Sie plappern laut und schnell. Sie schreien sich, über den großen, weiß-blau dekorierten Tisch hinweg, amerikanische Worte und Sätze zu, von denen wir nichts verstehen. Sie lachen permanent, beinahe hysterisch. Was sie sich zu erzählen haben, muss unvorstellbar lustig sein, denn noch nie habe ich so viel Kinderlachen an nur einem Nachmittag erlebt.
Peter sitzt neben mir. Er lädt sich einen Berg rosa Törtchen auf seinen Teller. Die Törtchen liegen auf kleinen bunten Hügeln in der Mitte des Tisches. Peter greift lachend zu den dort stehenden Coca-Cola-Flaschen. Er sieht mich an und brüllt:
“Echt einsame Spitze die Amis!”
Für mich sind seine Worte ein Startsignal. Ich mache einfach alles nach, was er tut. Was Peter gut findet, kann nicht schlecht sein. Er ist erfahren und sich seiner Sache immer sicher. An ihm orientiere ich mich seit langer Zeit. Ich greife also auch zur Cola-Flasche und lade meinen Teller kräftig mit bunten Leckereien voll.
“Echt toll die Amis!”
So plärre auch ich. Genauso wie Peter schiebe ich ein Törtchen nach dem anderen in meinen Mund.
Es ist ein traumhafter Nachmittag bei den Amerikanern. Im Kinderheim gibt es nie ein Fest, an dem es so viele süße Sachen und bunte Leckereien zu Essen gibt. Im Oberlehen gibt es auch Kinderfeste, aber nicht in solchen Dimensionen. Deshalb sind Peter und ich schwer begeistert. Noch Wochen nach dem Fest schwärmen wir gegenüber anderen Heimkindern, die nicht dabei waren, wie toll wir das fanden. Die süßen amerikanischen Törtchenberge werden von Erzählung zu Erzählung höher. Die amerikanischen Kinder sind die tollsten Kinder der Welt. Amerikanische Kinder erzählen ständig von den tollsten, spannendsten und gefährlichsten Abenteuern, die man sich nur vorstellen kann. Selbst im Kino gibt es keine so tollen Geschichten. Peter und ich erfinden ständig neue Abenteuer, welche wir in unseren Erzählungen über diesen Nachmittag, den amerikanischen Kindern in den Mund legen.
Die amerikanischen Kinder springen munter von ihren Plätzen auf, sie stopfen ihre Münder noch voller mit Cremetörtchen und Sahne, als Peter und ich das schaffen. Deren Zügellosigkeit beeindruckt Peter und mich. Sie stopfen so viel in sich hinein, wie nur geht und sie spülen mit Cola nach, wie mit Wasser. Mit voll gestopften Mündern rennen sie herum, sie klettern auf ihre Stühle und plärren amerikanisch von oben herunter.
Alle Kinder im Oberlehen wissen, dass man erstens nicht mit vollgestopftem Mund spricht, zweitens stopft man den Mund nicht so voll, drittens steigt man nicht auf seinen Stuhl, viertens plärrt man nicht so laut, als sei man ein zu laut aufgedrehtes Radio, dessen Empfang schlecht eingestellt ist und fünftens gibt es im Oberlehen nicht so viel buntes Zeug, das man hinein stopfen darf, bis man fast zerplatzt. Im Oberlehen geht es während Kinderfesten diszipliniert zu.
Im Kinderheim lernen wir Regeln, Disziplin und Zurückhaltung. Wir wissen deshalb genau, was wir nicht tun dürfen. Im Oberlehen ist klar, was geschehen wird, wenn wir tun was wir nicht dürfen. Amerikanische Kinder tun all das, was wir während solcher Feste niemals tun dürfen. Disziplinlosigkeit und Ausgelassenheit sorgen für laute Stimmung und viel amerikanischen Spaß. Animation, wie sie im Kinderheim die alte Heimleiterin auf ihrer Gitarre täglich bietet und Kinderspiele sind an dem amerikanischen Nachmittag überflüssig. Die amerikanischen Kinder vergnügen sich prächtig, sie feiern, wie sie es wollen. Freilich sehr ungesund, sehr süß und klebrig. Das nehmen Peter und ich staunend zur Kenntnis.
“Wahnsinnig toll! Das ist alles echt amerikanisch!”, plärrt mir Peter immer wieder ins Ohr. Nach einer Stunde auf dem Kinderfest finde ich, dass seine Stimme plötzlich genauso klingt, wie die der amerikanischen Kinder. Seine Worte aber bleiben deutsch. Peter versteht die Sprache der hüpfenden, herum tollenden amerikanischen Kinder genauso wenig wie ich. Trotzdem finden wir deren Sprache und den Klang dieser Sprache toll. Wir kennen sie von Popsongs, deren Texte wir nicht verstehen, aber gut finden, weil uns ihr Klang gefällt und weil sie nicht deutsch sind.
Englische und amerikanische Musik hören wir im Oberlehen häufig in Peters Radio. Sie begeistert Peter und mich. Für uns ist sie eine Gegenbewegung zu den deutschsprachigen Volksliedern, Schnulzen und Schlagern, die im deutschen Fernsehen präsentiert werden. Ich hasse die deutschsprachige Musik, weil ich deren Texte verstehe und peinlich finde. Abends verlasse ich deshalb oft den Aufenthaltsraum im Haupthaus des Kinderheims und gehe freiwillig frühzeitig ins Bett. Mich regen die romantischen Titel wie “Ich liebe Dich”, “Ich hab noch Sand in den Schuhen aus Hawaii” oder “Der Junge mit der Mundharmonika” auf. Ich finde die aufgedonnerten Sängerinnen und Sänger abstoßend und nervig. Mich regt die Welt auf, die durch die deutsche Samstagabendunterhaltung über das Fernsehen in den Aufenthaltsraum unseres Kinderheimes gebracht wird.
Manchmal fühle ich deshalb Aggression und Hass in mir aufsteigen, weil ich eine Welt auf der Mattscheibe sehe und höre, die ich im Kinderheim nicht sehe, die es für mich nicht gibt. Ich bin deshalb wütend auf die Darsteller auf dem Bildschirm und ich bin wütend auf das Kinderheim und den Heimleiter, weil die Welt, die ich am Oberlehen täglich erlebe, keine der Schönheiten bietet, die von den Stars in Glitzerkleidung besungen werden.
Ich glaube, dass Buchhalter und Heimleiter den Alltag im Oberlehen absichtlich niederträchtig gestalteten, um uns die schöne, bunte Welt vorzuenthalten. Ich weiß noch nicht, dass die schöne bunte Fernsehwelt, mit der Realität außerhalb unseres Oberlehens nichts zu tun hat. Ich weiß noch nicht, dass das bunte Fernsehprogramm dieser Zeit, vermutlich für viele Menschen genau einen Zweck hat: Von deren Alltag abzulenken. Ich weiß auch noch nichts davon, dass insgesamt das tägliche Fernsehprogramm dieser Zeit, den Charakter einer billigen Feierabendunterhaltung hat und gewissermaßen auf die Anspruchslosigkeit der Menschen abzielt. Ich glaube deshalb, dass es die schöne bunte Welt, in der die Menschen glücklich sind, und permanent lächeln, wie die Sänger und die Moderatoren im Fernsehen irgendwo geben muss. Warum sonst wird sie von den schönen Menschen auf dem Bildschirm Samstag für Samstag besungen? Irgendwo könnte eine schöne Welt sein. Mein „Irgendwo“ wird im Oberlehen zu meinem kindlicher Traum von meinem Zuhause, dass ich eines Tages zu finden hoffe.
Meine Kinderwelt im Oberlehen ist gewalttätig und laut. Es ist keine bunte Kinderwelt, sondern sie ist grau, dunkel und voll von Gebrüll erwachsener Männer. Ich hasse Buchhalter und Heimleiter, weil sie uns nicht vernünftig anleiten, sondern weil sie uns rücksichtslos regieren. Sie zwingen uns zu blindem Gehorsam. Kinder im Oberlehen haben grundsätzlich zu tun, was die beiden Männer sagen. Das ist noch nicht schlimm, aber weil sie das tun, ohne ihr Tun zu begründen, ist es schlimm. Was die Männer wollen, fordern sie, und sie bekommen es. Sie fordern in lautem Befehlston.
Der Heimleiter Hennings ist nicht sehr groß aber kräftig. Er brüllt: “Du gehst heute ohne Abendessen ins Bett, du Armleuchter!” Büchtler, der Buchhalter ist groß, schmaler als Hennings aber sehr kräftig. Er ist sportlich und hat leicht behaarte, schmale Hände. Morgens fährt Büchtler vor dem Haupthaus am Oberlehen in seinem weißen Porsche vor. Was Büchtler tut, wirkt mächtig und stark. Das Auto ist ihm sehr wichtig. Es ist schnell und laut. Büchtler erzählt gerne, wie schnell er den Berg hinauf fährt und wie viele rote Ampeln er von seiner Wohnung unten im Tal, bis hinauf ins Kinderheim überfährt.
Büchtlers Macht resultiert nicht nur aus dessen Stärke und Größe sondern auch daraus, dass er Buchhalter ist und unser Taschengeld verwaltet. Büchtler verteilt jeden Samstagvormittag das Taschengeld im Berchtesgadener Hallenbad. Die Taschengeldausgabe zelebriert Büchtler, sie wirkt, wie ein Ritual seiner Überlegenheit. Wer nicht tut, was Büchtler erwartet, wer im Verlauf der Woche Fehler begeht, bekommt nichts oder weniger Taschengeld am Samstag. Büchtler legt die Höhe des Taschengeldes, das uns zusteht, fest. Er benutzt es, um Abneigung und Überlegenheit gegenüber Kindern zu zeigen.
Büchtlers Bestrafungen sind nicht begründet. Ich spüre, dass seine Schläge von der Loyalität abhängen, die ein Kind gegenüber seiner Person zeigt, oder nicht zeigt. Ich zeige keine Loyalität gegenüber diesem Mann. Meinen Hass gegen diesen Mann und seinen Heimleiter kann ich kaum verbergen. Deshalb laufe ich dem Mann oft in die Faust und schneide auch beim Taschengeld schlecht ab.
Hennings und Büchtler missbrauchen ihre Macht, weil es beiden Männern nicht darum geht, zu klären, welches Kind die Salatschüssel auf den Boden geworfen hat und ob es absichtlich geschehen war oder ein Versehen. Anstatt Ereignissen genauer auf den Grund zu gehen, treffen sie schnelle Entscheidungen, die sie mit einfachen Mitteln, wirkungsvoll durchsetzen. Wen sie für schuldig erklären, ist schuldig. Einmal getroffene Entscheidungen setzen sie mit Fäusten und Schlägen durch.
8. Fernsehen
Ich verlasse die heiße Fabrikhalle. Die schwere Stahltür fällt hinter mir zu. Der ohrenbetäubende Lärm ist deshalb nur noch ein leises, entferntes, monotones Schlagen. Langsam steige ich die schwarze Steintreppe hinunter. Auf dem unteren Treppenabsatz im Erdgeschoss bleibe ich kurz stehen. Ich sehe hinauf zu einem großen Fenster. Der Himmel ist blau, ich sehe keine Wolken. Am Rand des Fensters sehe ich das Felsmassiv des Untersberges. Meine Hand liegt schon auf dem weißen Plastikgriff der Stahltür. Ich bleibe noch einige Sekunden stehen, denn ich spüre, dass sich in meinem Kopf etwas tut. Die steile Steintreppe erinnert mich an etwas. Ich sehe noch einmal zurück auf die steinerne Treppe zwischen Erdgeschoss und erstem Stock in der Fabrik.
Nachmittags werde ich blutüberströmt in unser Zimmer ins Nebenhaus getragen. Wegen eines Faustschlages fliege ich durch die dünne Milchglasscheibe der Tür. Ich stolpere über den hölzernen Türrahmen, der das milchige weiße Glas hält. Weil meine Hände nirgendwo an dem Türrahmen Halt finden, stürze ich die schwarze, steinerne Kellertreppe hinunter in den Schuhputzkeller. Unten bleibe ich auf dem dunklen Steinboden, vor der langen Reihe gelber Regenjacken liegen. Schmerzen von meinen Verletzungen spüre ich nicht. Sie kommen erst später, als ich im Nebenhaus im Zimmer auf meinem Bett liege.
Hennings verpasst mir nachmittags einen kräftigen Faustschlag. Ich muss irgendetwas zu Hennings gesagt haben, was der Auslöser war. Anfangs, nachdem Hennings und der Buchhalter die Leitung am Oberlehen von der alten Heimleiterin übernehmen, fresse ich meine Wut noch nicht in mich hinein. Deshalb schlägt Hennings auf mich ein. Meine Wut brülle ich an diesem Nachmittag einfach heraus.
Jahrelang lerne ich deren Sprache zu verstehen. Es sind laute Worte, verbunden mit heftigen Schlägen. Ich bin dumm, klein und schwach. Ich habe nichts zu sagen oder zu fordern. Ich kann nicht herausfinden, ob es draußen eine schönere Welt gibt, in der Menschen leben, die nicht unter Männern wie Hennings und Büchtler leiden. Deren Verhalten ist mein normaler Alltag, ist meine Kindheit. Ich spüre mehr und mehr Hass auf die beiden.
Der deutsche Schlager, das deutsche Volkslied besingen jeden Samstagabend, im deutschen Fernsehen eine schöne Welt. Sonnabends sitzen Heimleiter Hennings und dessen Kinderheimkinder im großen Aufenthaltsraum vor der Glotze. Er ist korpulent und klein. Seine Gesichtshaut ist leicht gebräunt und faltig. Die Haare sind schwarz, gewellt, fettig, stets gekämmt. An der Stirn hat er eine leichte Locke. Hennings erhebt sich schwer von der braunen Holzbank. Behäbig tritt er an das Fernsehgerät. Er trägt eine braune Lederhose, einen roten Wollpullover, nein, es ist ein Pullunder. Darunter trägt er ein weißes Hemd und über dem Pullunder eine grüne, bayerische Wolljacke mit silbernen Knöpfen.
Vor den niedrigen Fenstern im Aufenthaltsraum sind die grünen Vorhänge zu gezogen. Ich höre gedämpfte Kinderstimmen. Ich höre Tuscheln, Piepsen, Flüstern, Lachen, Husten. An der Wand sind braune Holzbänke angebracht. Ich erkenne Stühle, alte Sessel, den Fußboden mit gemusterten Teppich, dessen Muster unseren Matchboxwagen als Straßen dient, der gesamte Raum voll mit Kindern. Die Stimmung im Raum ist erwartungsvoll. Kein Kind ist jetzt laut. Kein Kind drückt die gespannte Vorfreude auf das Fernsehereignis durch geräuschvolles Lachen, Johlen oder Herumhüpfen aus. Kein Kind will jetzt auffallen und damit riskieren, kurz vor Beginn der Sendung von Hennings ins Bett geschickt zu werden.
Hennings schaltet das Gerät ein. Sofort endet das gedämpfte Tuscheln der vierzig im Aufenthaltsraum. Sekundenlang herrscht gebanntes Schweigen. Achtzig glänzende Kinderaugen sind auf die noch dunkle Mattscheibe gerichtet, gebannt warten sie auf den Beginn der Sendung. Die Mattscheibe wird hell und bunt. Ein dünner Mann in weißem Hemd und dunklem Sakko hüpft durch einen großen Raum. Zu dessen Füßen sitzen Fans, die alle Perücken von Frisuren tragen, die sich nur in der Farbe voneinander unterscheiden. Der dürre Mensch lächelt vierzig Kindern aus dem Fernsehgerät entgegen. Vor seinem Mund winkt unruhig ein orangenfarbenes Mikrophon hin und her. Der magere Mann wartet bis das Klatschen der Fernsehstudiogäste zu seinen Füßen endet. Weil deren Begrüßungsklatschen nicht enden will, versucht er die Studiogäste zu beschwichtigen. Beide Hände, dabei in der rechten das orange Mikrophon, bewegt er auf ab. Er lächelt ausdauernd aus dem Fernsehgerät. Das Klatschen ebbt endlich ab. Jetzt begrüßt er uns Fernsehzuschauer und seine Gäste im Studio.
Zwischen den vierzig Kinderköpfen vor dem Fernsehgerät ragen auch die Gesichter von Peter und mir hervor. Wir sitzen nebeneinander auf dem Teppichboden. Von meinem Platz sehe ich oben links Hennings. Er lässt sich langsam und schwer auf der Holzbank, neben der weißen Milchglastüre zum Speisesaal nieder. Neben ihm sehe ich ein junges Mädchen mit blondem Haar. Jetzt höre ich die Stimme von Ilja Richter. Sie tönt laut aus dem Fernsehgerät. Ich kenne dessen Stimme gut, denn ich höre sie alle zwei Wochen am Samstagabend. Er plärrt schnell, beinahe hysterisch aus dem Gerät:
“Deshalb ist es mir wieder einmal ein besonderes Vergnügen, heute als ersten Gast, hier in der Disco ankündigen zu dürfen: Bernd Klüver mit seinem beliebten Titel und weltbekannten Hit: Der Junge mit der Mundharmonika”!
Auf der Mattscheibe erscheint ein Mann mit dunklem Haar und einer glitzernden Hose. Er trägt ein weißes, geöffnetes Hemd mit riesigem Kragen. Langsam wandelt er durch sitzendes und stehendes Publikum. In der rechten Hand hält er ein silbernes Mikrophon. Sein Gesang geht jetzt los.
Ich wende meinen Kinderblick vom Bildschirm ab. Ich sehe hinauf nach links. Dort sehe ich Hennings. Er sitzt neben dem blonden Mädchen. Seine schwere gebräunte Hand lastet auf der Schulter des Mädchens. Jetzt erkenne ich das Mädchen: Es ist Sofia. Sie sieht hübsch aus. Die ist Italienerin. Ich sehe das faltige Gesicht von Hennings dicht bei Sofias hübschen braunen Augen. Hennings lächelt. Ich kenne sein Lächeln seit vielen Jahren. Seine Augen glänzen, wenn er so lächelt. Ich folge seinem Blick, vorbei an Kinderaugen, zum Fernsehgerät. Dort tänzelt der glitzernde Sänger.
Das Oberlehen liegt in herrlicher Traumlandschaft. Die Aussicht tröstet mich aber nicht. Wie ich im Heim regiert werde, gefällt mir trotz des paradiesischen Ausblicks nicht. Anstatt die herrliche Sicht über das Tal zu genießen, sammle ich Hass und Wut an. Aber ich bleibe immer beherrscht und diszipliniert.
Samstags, nach zwanzig Minuten der Sendung “Disco” oder “Hitparade” stehen Peter und ich gleichzeitig auf. Wir gehen in unser Zimmer. Dort legen wir uns ins Bett. Peter schaltet sein Radio ein. Peter stellt seinen Kassettenrecorder auf Aufnahme sobald ein englischer Popsong gespielt wird. Wir verstehen kein einziges Wort. Aber wir sind glücklich, dass es diesen einen Sender zu empfangen gibt, denn er sendet keine deutsche Schnulze und kein deutsches Liebeslied. Peter ärgert sich über die amerikanischen Ansager, deren Tonfall er zwar liebt, aber sie blenden jeden Song zu früh aus. Sie plärren hektisch und schnell in seine Kassettenaufnahme. Er nennt deren Sprache “amerikanischen Släng”.
Während des amerikanischen Kinderfestes warte ich den ganzen Nachmittag darauf, dass die Kinder endlich genauso los singen, wie die amerikanischen und englischen Popstars in Peters Radio, denn sie sprechen ja die gleiche Sprache. Die amerikanischen Kinder beginnen aber nicht zu singen. Stattdessen plärren, schreien und lachen sie. Sie stopfen den ganzen Nachmittag bunte Törtchen und Cola in sich hinein.
Später sind die Kinder satt. Deshalb beschmieren sie sich mit der orange, gelben, blauen und roten Sahne der Törtchen. Ich beobachte einen kleinen blonden Jungen. In seiner rechten Hand liegt ein rosafarbenes Törtchen. Er schleicht sich an ein kleineres, schwarzhaariges Mädchen heran. Sie steht am Fenster und blickt hinaus. Von hinten drückt er ihr ein Törtchen ins Gesicht. Das Mädchen schreit. Sie wehrt sich sofort. Sie greift in einen Törtchenberg auf dem Tisch, erwischt ein Stück roten Sahnekuchen. Der Junge rennt in Richtung Ausgangstür. Das Mädchen holt zum Wurf aus. Sie wirft und trifft. Die rote Sahne hängt am Hinterkopf des blonden Jungen und läuft über dessen Rücken hinunter. Die amerikanischen Kinder lachen und johlen. Jetzt beginnt zwischen dem Jungen und dem Mädchen eine wilde Verfolgungsjagd um die Tische.
Am Oberlehen erlebe ich derartige Szenen nie. Kein Kind im Oberlehen schmiert einem anderen einen Kuchen oder anders Essbares in die Haare. Im Oberlehen essen wir sehr schnell. Nur wer am schnellsten fertig ist, kann noch etwas bekommen. Nur wer seine Brotscheibe gegessen hat, darf sich eine weitere aus dem Korb nehmen. Eine zweite Scheibe schon vorher auf dem Teller zu sichern, ist verboten.
Abends in unserem Zimmer zweifle ich daran, dass der hektische Ansager vom amerikanischen Sender von irgendeinem Menschen auf der Welt verstanden wird. Ich glaube daran, dass alle Zuhörer genauso wie wir, dessen Tonfall gut finden.Erst die amerikanischen Kinder auf dem Kinderfest räumen mit meinem Glauben auf. Wegen ihnen beginne ich abends neben Peters Radio, darüber nachzudenken, was die Ansager den amerikanischen Menschen wohl sagen.
Eines Abends habe ich das Gefühl, dass die amerikanischen Ansager das gleiche erzählen, wie die deutschen Radioansager. Peter findet diese Vermutung absurd. Er sagt:
“Oh no! Das glaube ich nie und nimmer! Schon die Musik ist ganz anders als die deutschen Schlager. Sie ist schneller und besser, also reden die auch was anderes!” Was Peter sagt, glaube ich ihm. Ich glaube es, obwohl auch er nicht versteht, was die amerikanischen Radioansager erzählen.
Nach dem amerikanischen Kinderfest ist mir schlecht. Ich weiß jetzt, wie gut es den Kindern der amerikanischen Männer geht, die ich täglich in großen Wagen die steile Straße den Obersalzberg hinunter rollen sehe. Weil es den amerikanischen Kindern so gut geht, grüße ich deren Eltern, hinter den Lenkrädern weiterhin mit dem Victory – Zeichen, denn ich möchte, dass sie uns weiterhin anlächeln und uns zu winken. Das tue ich viele Jahre lang. Ich möchte, dass sie uns wieder einladen. Das tun sie nicht.
9. Witwe Bolte
In der kleinen Küche in der Hochsteinstraße gibt es ein Fenster. Morgens um halb sieben Uhr stehe ich dort und sehe hinüber zum Obersalzberg. In der Küchenschublade finde ich mehrere karierte Küchenhandtücher. Während ich mein Frühstücksgeschirr spüle, liegt das Abtrockenhandtuch auf meiner Schulter.
Das ordentliche Abspülen und anschließende Geschirrtrocknen habe ich im Oberlehen gelernt. Es ist selbstverständlich, dass ich in der gemieteten Küche, morgens um kurz vor sieben Uhr, die Ordnung wieder herstelle, bevor ich mich auf den Weg zur kleinen Fabrik mache. Es bereitet mir keine Schwierigkeiten in den Küchen, in denen ich lebe, Ordnung zu halten. Alles benutzte Geschirr landet nach Gebrauch und Reinigung wieder sauber an seinem Platz. Es ist nicht meine Art, Geschirrberge in der Küche aufzuhäufen. In früheren Studenten-Wohngemeinschaften musste ich erst lernen, dass das Aufräumen in der Küche nicht selbstverständlich zum Akt des Kochens gehört. Ich musste lernen, dass Aufräumen eine unangenehme Arbeit ist, die mancher Mitbewohner regelmäßig vor sich her schob. Im Kochunterricht in der Berchtesgadener Hauptschule und später auf der Realschule musste mir das Ordnunghalten in der Küche nicht beigebracht werden. Diese Aufgabe hatte die Köchin im Oberlehen erledigt.
Eine dicke Frau in großem weißem Kittel kocht täglich für uns. Ihre braunen Haare sind zu einem großen Dutt auf dem Kopf zusammengesteckt. Auf ihrer weißen breiten Schulter liegt ein kariertes Küchenhandtuch. In der großen Küche kocht sie, was der Kühldienst “Witwe Bolte” täglich auf dem Hof vor dem Haupthaus auslädt. Die Kinder vom Küchendienst tragen viele Pappkisten eine steile Außentreppe am Haupthaus hinunter in den Keller. In zwei Kellerräumen, neben dem Schuhputzkeller, wird alles sorgfältig, nach Anweisung der dicken Köchin in Gefrierschränken verstaut.
Der Küchendienst ist kein beliebter Dienst. Er ist untrennbar mit der rabiaten Köchin und deren Kommandos verbunden. Sie scheucht uns um den großen Ofen, plärrt Kinder an, die zu dumm sind, Teller und Besteck vernünftig zu trocknen. Kommt es besonders schlimm, spüren die schlechten Abtrockner einen schnellen kräftigen Schlag ihres feuchten, blaukarierten Küchentuches.
“Pass auf Bub! So geht’s need!”
Blitzschnell zischt das feuchte Küchentuch von deren Schulter. Den nächsten Plastikteller muss ich sehr gut abtrocknen, denn sonst dreht sie fest an meinem Ohr und mein Kopf wird durch die kräftige dicke Hand der Frau auf den feuchten Plastikteller gedrückt, bis meine Nasenspitze die feuchte Telleroberfläche spürt.
Im Erdgeschoss, neben der großen Küche, liegt der Speisesaal mit hellblauem Linoleumboden. An den Decken hängen quadratische Leuchten mit Neonlicht. Eine Woche lang verteilt der Küchendienst morgens, mittags und abends, unter Aufsicht der Köchin weiße Plastikteller und rote Plastikbecher auf den Holztischen im Speisesaal.
10. Seife
Das Oberlehen ist ursprünglich ein Erholungsheim, in das Kinder aus verschiedenen Orten in Westdeutschland für einige Wochen zur Erholung in die herrliche Berglandschaft oberhalb Berchtesgadens geschickt werden. Anfang 1970 wird es für Kinder wie Peter, Hartmut und mich zu unserem neuen Zuhause. Wir sollen, im Gegensatz zu den Erholungskindern, „für immer“ die frische Luft auf dem Obersalzberg einatmen. Uns schicken deutsche Jugendämter dort hin. In unseren Familien gibt es unterschiedliche, Probleme, weshalb wir nicht bei unseren Eltern leben dürfen. Deshalb werden wir im Oberlehen bei Heimleiter Hennings und dem Buchhalter Büchtler untergebracht.
Von den Problemen in meiner Familie weiß ich damals nichts. Ich bin 1970 gerade mal sechs Jahre alt. Deshalb interessiere ich mich nicht für Probleme. Ich interessiere mich dafür, wie es mir dort geht, wohin mich mein Jugendamt bringt. Noch bevor ich 1971 in der Bacheifeldschule in Berchtesgaden eingeschult werde, lerne ich, dass die zwei Männer, die sich am Oberlehen meiner Erziehung annehmen, sehr ungehobelte Kerle sind. Beide mögen Kinder nicht besonders. Ihre Haltung können die beiden nicht verbergen. Ich habe das Gefühl, dass die beiden, Kinder nicht nur nicht mögen, sondern sie scheinen sie zu hassen, warum sonst schlagen sie so oft auf mich und die anderen Kinder im Oberlehen ein?
In Berchtesgaden beginnt der August. Die ersten Tage sind heiß und trocken. Die Hitze in der kleinen Fabrik ist beinahe unerträglich. Die Arbeit läuft, wegen der umfangreichen Aufträge von Herstellern edler Parfüms auf Hochtouren. Mehrarbeit ist täglich notwendig. In der Wohnung an der Hochsteinstraße wohne ich seit ein paar Tagen nicht mehr allein. Herbert, ein Student, ist eingezogen. Er wohnt im Zimmer neben den beiden Räumen, die ich seit Wochen bewohne. Herbert kommt aus Norddeutschland. Er absolviert im Rahmen seines Wirtschaftsstudiums ein Praktikum in der kleinen Firma.
Auf Herberts Ankunft bin ich nicht vorbereitet. Sie wird vom Chef und dessen Frau frühzeitig angemeldet, und es wird mit mir vereinbart, dass Herbert in das freie Zimmer zieht. Trotzdem spüre ich, als er ankommt, dass ich nicht darauf eingestellt bin. Eine fremde Person benutzt Wohnung, Bad, Küche und Toilette mit. Eine Wohnung, die ich allein bewohne, bewohne ich anders, als eine Wohnung, die ich mit einem fremden Mitbewohner teile.
In Studentenwohngemeinschaften hatte ich keinerlei Probleme. Ordnung ist für mich kein Problem. Deshalb findet Herbert in Bad und Küche genügend Platz für sich. Auf den Ablagen und Regalflächen breitet er sich aus. Er verteilt Cremes und Körperpflegemittel. Ich lerne, dass ein gepflegter Mensch davon unvorstellbar viel benötigt.
Am Tag seiner Ankunft stellt Herbert mir seine Freundin und sich selbst vor. Beide sind sehr gepflegt und dick geschminkt. Als ich den beiden gegenüberstehe und deren feine Hände schüttle, habe ich das Gefühl schmutzig und ungepflegt zu sein. Die tägliche Dusche scheint mir plötzlich zu wenig. Mein Stück Seife und mein Haarwaschmittel auf der Ablage im Bad, mit dem ich bislang meinen Körperreinigungsbedarf gedeckt sah, scheint mir nicht mehr ausreichend.
Herbert ist Sportler. Mehrere Fahrräder lädt er aus einem Transporter und stellt sie unter dem Vordach zur Wohnung ab. Täglich ist er nachmittags ab halb sechs Uhr im engen, gelben Trikot auf den Bergstraßen unterwegs. Herberts umfangreiche Reinigungsbatterien im Badezimmer erkläre ich mit seinem höheren Bedarf wegen des Fahrradsports, und mit einem gewissen Wettbewerb, dem er sich aussetzt, weil ihn eine stets perfekt gepflegte Freundin begleitet. Deshalb denke ich nach drei Tagen, dass meine Seife und mein Haarwaschmittel weiterhin für mich reichen. Weil Herbert und ich nicht nur aus optischen Gründen nicht zusammenpassen, er eine Sache die ich für die menschliche Fortbewegung als sinnvoll und geeignet betrachte als Extremsport betreibt, aber vor allem, weil wir keine gemeinsamen Themen haben, außer unserem gleichzeitigen Aufenthalt in einer Wohnung, lebt Herbert in seinem Zimmer und ich in meinen beiden.
Herbert ist täglich mit Fahrradfahren, seiner Freundin und der Körperpflege genug beschäftigt, um sich nicht um mich zu kümmern oder zu interessieren. Trotzdem sehe ich heute Morgen, nachdem Herbert die erste Nacht in der Wohnung übernachtet hat, mein Projekt gefährdet. Ich sitze nicht vor meiner kleinen, alten Schreibmaschine. Es hat sich etwas verändert. Meine Gedanken an das alte Oberlehen, an mein Leben auf dem Obersalzberg, kann ich heute Morgen um fünf Uhr nicht sammeln. In der Wohnung lebt ein Mensch, der mich jederzeit fragen kann, wer ich bin, woher ich komme, was ich in diesem Ort zu tun habe. Zu guter letzt merkt Herbert vielleicht sogar, dass ich täglich morgens auf der Schreibmaschine tippe und will wissen, was ich da tue.
Ich möchte, was ich tue, was ich schreibe, warum ich zurück komme an diesen Ort, keinem fremden Menschen mitteilen. Ich sehe Herbert, der mit seinem Praktikum in der Fabrik ein klares Ziel vor Augen hat. Es ist sein Studium, dazu gehört dieses Praktikum. Welche Antwort könnte ich dem fremden Mitbewohner geben, sollte er mich auf meine Ziele in Berchtesgaden, in der Fabrik ansprechen? Und der Chef? Welchen Kontakt hat Herbert zum Chef, dem Fabrik und Wohnung gehören, in der nun auch Herbert arbeitet und wohnt? Diese Fragen sehe ich heute Morgen, wegen ihnen tauchen meine Erinnerungen an das Oberlehen nicht auf.
Es rumort in meinem Kopf. Wegen Herbert verschwindet das Oberlehen. Meinen momentanen Alltag in dieser Wohnung, und die Fabrikarbeit, habe ich mir als Legitimation für tägliche Erinnerungsversuche gesucht. Morgens die frühe Stunde vor der Schreibmaschine in meiner Vergangenheit, danach die Fahrt im Wagen des Chefs, täglich die stundenlange Fabrikarbeit und abends meine Müdigkeit auf dem braunen Sofa in meinem Zimmer mit Blick zum Obersalzberg. Das ist eine wunderbare Konstruktion, um die Erinnerungen an mein Leben im Oberlehen vor zwanzig Jahren zu wecken, einzuordnen und abzuschließen. Heute Morgen sehe ich die Konstruktion gefährdet. Ich lebe in Berchtesgaden einen unwirklichen Alltag. Ich blende die Realität um mich herum aus, genauso wie die täglichen Meldungen des Deutschlandfunks über das Morden im zerfallenden Jugoslawien. Mein Alltag scheint plötzlich fern der Realität zu liegen.
Für das Erinnern, Zusammentragen und Aufschreiben der Bruchstücke meiner Vergangenheit reserviere ich die geringste Zeit des Tages. Gewiss habe ich herausgefunden, um welche Zeit ich am besten daran arbeiten kann, welche Zeit des Tages die wertvollste für diese Arbeit ist. er größte Zeitfresser des Tages bleibt die anstrengende Fabrikarbeit. Sie frisst meine Kräfte, macht mich müde. Die Fabrik passt nicht zu meinem Denken und sie passt nicht zu der Aufgabe, die ich jeden Morgen für eine Stunde angehe. Das ärgert mich mehr und mehr.
Wie ein marodes Gebäude bricht heute Morgen mein Alltag in meinem Kopf zusammen. Widersprüche der Fabrikarbeit, das Erinnern und Aufschreiben, mein tägliches Tun und Denken prallen in meinem Kopf aufeinander. Am Frühstückstisch sehe ich meine Erinnerungsarbeit in einer dicken Staubwolke verschwinden. Sie ist undurchschaubar. Das alte Oberlehen finde ich heute Morgen nicht.
Ich laufe dem gelben Finanzamt entgegen. In meinem Kopf finde ich Gedanken der Angst um mein Projekt. Wegen der Widersprüche habe ich Zweifel am Sinn der Erinnerungsarbeit. Hastig tapse ich die gepflasterte Hochsteinstraße hinunter, bis zur Nonnenstraße. Der Watzmanngipfel ist heute Morgen von Wolken umhüllt. Ich lasse, wie jeden Morgen, eine Autoschlange passieren. Sie durchquert täglich um diese Uhrzeit über die Nonnenstraße den Ort in Richtung Salzburg. Der weiße Wagen rollt an mir vorbei. Ich bin wieder zu spät dran. Jetzt renne ich. In Sekunden bin ich beim Wagen des Chefs.
Mein Laufen verändert mein Denken; Ich werde mein Projekt in diesem Ort zu Ende führen. Morgen früh werde ich meinen Rhythmus des täglichen Schreibens und Erinnerns wieder aufnehmen. Zweifel und Ängste, wegen meines Alltags, wegen meiner Zukunft ohne Arbeit in der Stadt, werde ich zurück drängen. Von meinem neuen Mitbewohner Herbert werde ich mich nicht aus meinem Konzept bringen lassen. Den Zweck meiner Rückkehr habe ich geklärt. Den Alltag in diesem Ort brauche ich, um meine Erinnerung zu beflügeln. Die Konsequenzen aus der Zeit, die ich in diesem Ort brauche, sollen mich erst später beschäftigen. Ich werde in der Fabrik weiterarbeiten. Das Aufschreiben der Vergangenheit kann nur jetzt und hier geschehen. Sinn oder Unsinn in meiner Aufgabe gibt es nicht. Sie muss getan werden!
Ich lasse mich schwungvoll, wie jeden Morgen, im schwarzen Ledersitz im Wagen neben dem Chef nieder.
Um halb fünf Uhr läutet mein Wecker. Draußen dämmert es. Vor dem Obersalzberg hängen Nebelschwaden. Unter der Dusche denke ich an den gestrigen Morgen. Ich denke an Herbert, der mein Denken erschüttert und Zweifel auslöst. Er kommt mir morgens in der Wohnung nicht in die Quere. Er steht später auf. Ich weiß nicht, ob er überhaupt frühstückt. Er verlässt die Wohnung lange vor mir. Er fährt mit dem Fahrrad in die Fabrik. Ich hole Kaffee aus der Küche. Ich setze mich vor meine Schreibmaschine. Draußen steigen die Nebelschwaden schnell am Obersalzberg hinauf. In meinem Kopf zwinge ich mich zurück ins alte Oberlehen.
11. Sommer
Hennings und Büchtler übernehmen die Leitung des Oberlehens von einer alten Frau, die jahrelang das Erholungsheim geleitet hatte. Mit dem Eintreffen der beiden Männer werden wir vom Haupthaus ins Nebenhaus verlegt. Das Nebenhaus liegt über einen Hof mit feinem Kies und einer riesigen uralten Eiche, etwa zwanzig Meter vom Haupthaus entfernt. Mit Hartmut und Peter beziehe ich ein Zimmer. Es liegt im ersten Stock des zweistöckigen Gebäudes. Das Haus besitzt keinen Speicher mehr, weil dieser mit einem Duschraum und Toiletten, Büchtlers Büroraum, unserem Aufenthaltsraum und einer winzigen Bastelwerkstatt ausgebaut ist. Unser Zimmer ist etwas besonderes, denn es ist direkt von draußen aus dem Freien erreichbar.
Über eine hölzerne Außentreppe am Nebenhaus erreiche ich die Eingangstür zum ersten Stock. Ich gehe an ihr vorbei. So komme ich zu einer milchfarbigen Glastür. Das ist unsere Zimmertür. Ich betrete das Zimmer. Links steht ein hoher Kleiderschrank, gegenüber steht ein hölzernes Stockbett. Dort schlafe ich oben. Das Bett unter mir bleibt leer. Rechts der Tür steht ein zweites Stockbett. Oben schläft Peter, darunter Hartmut. In der rechten Ecke, auch das ist etwas besonderes, gibt es ein Waschbecken. Vor dem Fenster, das dem Obersalzberg zugewandt liegt steht unser Tisch mit drei Stühlen. Auf ihnen liegen nachts unsere Kleider.
Ich verlasse unser Zimmer. Draußen gehe ich die hölzerne Brüstung entlang, bis zur Glastür, die in den Waschraum und ersten Stock führt. Unten im Hof sehe ich Kinder, die den Kies im Hof mit Harke und Rechen bearbeiteten. Die riesige Eiche ist hell grün. Es ist also Frühling oder schon Sommer. Der Steinplattenweg zu Hellings Wohnungstür, sie liegt unter der Holzbrüstung, wird von zwei Kindern gefegt. Das sind Hartmut und Peter. Weil ich beide erkenne, lehne ich mich über die Brüstung. Minuten lang sehe ich ihnen beim Kehren zu.
Peter schlägt den Besen schwungvoll über die Steinplatten. Dabei wirbelt er Staub und Schmutz auf. Hartmut, er ist mit einer kurzen Lederhose und einem orangenfarbenen Wollpullover mit grünem Bündchen bekleidet, trägt Handfeger und Kehrschaufel zu einem kleinen Häufchen. Peter schiebt das Häufchen mit seinem Besen auf Hartmuts Kehrschaufel. Der größte Teil des Schmutzes fällt dabei daneben.
Unmittelbar unter mir höre ich plötzlich lautes Quietschen. Es ist eine Tür, die sich öffnet. Das muss die schwere Eingangstür in Hellings Wohnung sein. Sie liegt direkt unter mir, im Erdgeschoss. Von der Brüstung blicke jetzt vorsichtig nach unten. Dort sehe ich zwei Köpfe. Von oben erkenne ich auf dem einen Kopf einen hellen, kurzen Haarschnitt, mit dünnem, glattem Haar und eine gewellte, dunkle Frisur. Das sind die Köpfe von Büchtler und Hennings! Ich merke, wie mein Herz schnell zu rasen beginnt. Beide kommen aus der Wohnung von Hennings. Weil ich von den beiden nicht gesehen werden will, wende ich mich um zur Glastür hinter mir. Schnell öffne ich sie, trete ein und schließe sie leise. Ich stehe im Durchgangswaschraum des Nebenhauses. Ich bewege mich sehr langsam weiter, obwohl ich Angst spüre, von Hennings oder Büchtler verfolgt zu werden. Ich weiß nicht, welcher Tag heute ist und was mir bevor steht. Ich merke aber, dass etwas kommen wird, den meine Hände zittern.
Rechts und links an der Wand reihen sich unsere Waschbecken. Morgens und abends stehen wir hier dicht gedrängt nebeneinander und waschen uns. Ich gehe sehr langsam, weil ich mir alles genau ansehen will. Ich will sehen, wo ich hier wohne. In mir spüre ich Angst vor den beiden Heimleitern, die ich vor Sekunden unten an Hellings Wohnungstüre sah. Ich habe heute etwas getan, was beide bestrafen wollen. Deshalb sind meine Beine ganz wackelig. Gemächlich durch unseren Waschraum und durch das Treppenhaus des Nebenhauses laufen? Plötzlich, auf der Schwelle zwischen Waschraum und Treppenhaus, fällt es mir ein: Beim Abendbrot hat mich Büchtler aus dem Speisesaal gejagt.
“Sofort in dein Zimmer und ab ins Bett, du Armleuchter!”
Büchtlers Fußtritt traf mich an der Türschwelle zum Speisesaals. Deshalb Unruhe und Angst, deshalb zitternden Hände und wackelige Beine. Deshalb der Schmerz am rechten Unterschenkel. Büchtlers Fußtritt traf mich brutal, das wird kräftig anschwellen. Ich müsste längst im Bett liegen. Trotzdem laufe ich weiter. Irgend etwas beunruhigt so sehr, dass ich es wage, trotz Büchtlers brutlem Fußtritt und klarem Befehl, nicht in meinem Zimmer und Bett zu sein. Was ist heute für ein Tag, was ist heute noch passiert, wovor habe ich solche Angst? Ich gehe weiter.
Im rechten Zimmer wohnen Meiko, sein Bruder und noch drei andere Jungs. Ich gehe an den Toiletten vorbei. Meikos Zimmer ist hell. Ein Fenster liegt Richtung Berchtesgaden. Durch das sehe ich hinüber zum Untersberg. Die tief stehende Sonne scheint herein. Sie wird gleich hinter dem Untersberg verschwinden.
Das Abendbrot ist vorüber, sonst wären Hartmut und Peter nicht im Hof und würden kehren, auch Hennings und Büchtler wären nicht aus Hellings Wohnung gekommen. Alle, außer mir, der seine Strafe zu verbüßen hat, säßen sonst noch am Abendbrottisch im Haupthaus. Was ist heute nur los mit mir? Warum laufe ich noch im Haus herum, statt Büchtlers Befehl zu folgen und im Bett zu sein?
Meiko sitzt rechts neben der Tür auf seinem Bett. Daneben steht sein Aquarium, das ihn mit Stolz erfüllt. Von seinem Taschengeld kauft er samstags Fische. Die sucht er vorher aus Büchern aus, die er ebenfalls vom Taschengeld kauft. Seine Fische sind ihm sehr wichtig. Wöchentlich reinigt er penibel sein Aquarium. Regelmäßig kauft er Futter für die Tiere. Mir kommt es nicht in den Sinn, samstags nach dem Hallenbad, mein Taschengeld für so etwas sinnvolles auszugeben. Stets verpulvere ich mein Geld für Süßigkeiten und Donald-Duck-Heftchen.
Meiko sitzt mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Seine Hände liegen auf seinem Radiokassettenrecorder, der auf seinen Knien steht. Ich gehe auf Meiko zu, weil ich ihn etwas fragen möchte. Vielleicht bekomme ich einen Tipp von ihm, um mich an den heutigen Sommertag im Oberlehen zu erinnern und heraus zu finden, warum ich so ängstlich durchs Haus laufe, statt meine Strafe zu verbüßen. Meiko stoppt mich sofort. Er zischt:
“Psst, psst, Mann, hör dir mal diesen super Song an, den ich gerade aufnehme!”
Ich bleibe vor Meikos Bett stehen. Ich lausche der Musik aus seinem Radio. Es ist die Gruppe Sailor mit dem Titel “Glas of Champagne”. Der Titel gefällt mir und dass Meiko ihn auf Kassette aufnimmt, finde ich sehr gut. Bei ihm im Zimmer kann ich dieses Lied künftig öfter hören. Jetzt fällt mir ein, dass mein Kassettenrekorder seit Monaten kaputt ist, weil er mir aus dem Stockbett gefallen war. Deshalb komme ich öfter bei Meiko vorbei, denn er lässt mich sein Aquarium ansehen und er lässt dazu seine aufgenommenen Musikkassetten laufen.
Ich gehe drei Schritte zum Fenster neben Meikos Bett und schaue auf den Hof hinunter. Dort stehen Hennings und Peter. Er hat Peter den Besen abgenommen. Er zeigt ihm, wie er den Weg kehren soll. Ich gehe zurück zur Türe, spüre Eile, weil ich jetzt am ganzen Körper zittere, wegen meiner Angst. Ich verlasse Meikos Zimmer, vergesse ihn zu fragen, was ich fragen wollte.
Was war mir in Meikos Zimmer gerade aufgefallen? Ich stehe in der Tür zum Waschraum, auf dem hellgrauen Linoleumboden. Ich bin klein, nicht einmal elf Jahre alt. Meine Haare sind fast noch blond. Ich sehe aus, als denke ich nach. Das Zittern hat aufgehört. Ich trage den beigefarbenen Nickipullover mit dem roten Bündchen, den ich vor Monaten aus einem Altkleiderberg gezogen habe. Regelmäßig liegen solche Berge nach dem Abendessen auf dem Fußboden im Haupthaus. Sie stammen von Kleiderspenden, die für uns abgegeben werden. Immer noch verweile ich im Gang zwischen Durchgangswaschraum und Toiletten. Endlich fällt es mir ein! Ich gehe zurück zu Meikos Zimmer. Ich betrete es nicht noch einmal, sondern stecke meinen Kopf durch den Türrahmen.
Ich möchte Meiko nichts fragen. Ich möchte etwas sehen. Ich schaue auf seine Hände. Das ist es. Der Radiorekorder! Das gleiche Radio von Grundig sehe ich Jahre später auf dem Fensterbrett im Esszimmer der Wohnung meiner neuen Eltern. Ich erinnere mich deshalb jeden Morgen an Meiko, wie er auf seinem Bett neben dem Aquarium sitzt und Musik hört. Ich bin sechzehn Jahre alt, sitze täglich um kurz vor sechs Uhr morgens am Frühstückstisch, schalte das Radio ein, um Nachrichten zu hören.
Ich drehe mich um und gehe zurück zum Durchgangswaschraum. Plötzlich höre ich lautes Trampeln von der Holztreppe draußen. Sofort beginnt mein Herz zu rasen, mir wird heiß. Der Lärm muss mit mir zu tun haben. Ich renne den Gang des Hauses entlang, vorbei an den Zimmern der anderen Kinder. Ich stürme die Holztreppe hinauf in den zweiten Stock. Oben renne ich durch den Duschraum und sperre mich in einer Toilette ein. Ich öffne das winzige Toilettenfenster und schaue hinunter auf die Holzbalustrade. Unten erkenne ich Michael, den Berliner.
Jetzt weiß ich welcher Tag heute ist. Es ist der Sommertag im Oberlehen, an dem nicht nur Büchtler mich bestraft, sondern auch der Berliner ist hinter mir her. Er sucht mich in meinem Zimmer, in meinem Bett. Weil er mich dort nicht findet, knallt er wütend die Glastür zu. Wegen ihm liege ich nicht im Bett, wie Büchtler es befohlen hatte. Direkt unter mir sehe ich ihn. Schnaubend vor Wut reißt er die Eingangstür ins Nebenhaus auf. Er knallt sie hinter sich zu.
Er will mich verprügeln. Er und alle anderen Heimkinder wissen, dass ich nicht mutig genug bin, eine Anweisung und die Strafe von Büchtler einfach zu ignorieren. Umso wütender ist Michael jetzt, weil er mich nicht in meinem Zimmer findet. Heute ist meine Angst vor ihm größer als die vor Büchtler. Ich bin nicht im Bett, doch das hat nichts mit Mut zu
Michael handelt im Oberlehen mit gestohlenen Fahrrädern und anderem. Er verleiht sie und kassiert Miete. Weil er mein ganzes Wochentaschengeld für die Miete eines Fahrrads in der Vorwoche kassiert hat, bin ich immer noch sauer auf ihn. Ich verstehe seine teuren Preise und seine Art zu rechnen nicht. Ich kapiere immer noch nicht, warum letzte Woche mein gesamtes Taschengeld dafür drauf gegangen war. Nach meiner Rechnung wäre es nur die Hälfte gewesen. Trotzdem hat Michael alles von mir verlangt und bekommen.
Heute Nachmittag habe ich meiner Wut auf ihn freien Lauf gelassen. Ich habe mich an diesem Kerl gerächt. Auf der Terrasse am Oberlehen habe ich mich unbeobachtet gefühlt. Blitzschnell packte ich eines von Michaels frisch lackierten Fahrrädern. Mehrere standen an der Brüstung der Terasse, um dort in der Sonne zu trocknen. Er lackiert die gestohlenen Fahrräder, damit sie von ihren Besitzern nicht wiedererkannt werden. Ich schleuderte ein rotes Fahrrad in hohem Bogen über die Brüstung die steile Wiese vor dem Nebenhaus hinunter. Das war eine tolle Sache. Ich war erleichtert. Endlich dem brutalen Kerl einen Schaden zufügen. Mein Herz raste vor Aufregung. Ich war sicher, von niemandem beobachtet worden zu sein. Ich rannte die steile Wiese hinter dem Haus, hinauf in den Wald. Dort setzte ich mich in unser Versteck. Ich freute mich sehr, über den gelungenen Racheakt.
Michael hat mich beobachtet. Er stand in seinem Zimmer am Fenster Richtung Untersberg. Von dort sieht er wunderbar auf die Terrasse. Doch er konnte nicht sofort einschreiten. Büchtler war genau in dem Augenblick, als er sah, wie ich das Fahrrad über die Brüstung warf, in Michaels Zimmer gekommen. Er sprach mit Michael über die Fahrräder, wollte genau wissen, woher er die hatte und wie viel er dafür bezahlt hat. Büchtler und Hennings ist es sehr wichtig, dass es keinen Ärger gibt, der außerhalb des Heims Wogen schlägt. Büchtler hatte den Verdacht, dass Michael Fahrräder stiehlt, deshalb ließ er sich von dem genau vorrechnen, was die Räder gekostet haben und wovon er die bezahlt hat. Für Michael kein Problem, aber ein ganz schlechter Zeitpunkt.
Abends kam ich heute ganz pünktlich zum Schuhe putzen aus dem Wald zurück. Das überwacht Hennings täglich im Schuhputzkeller. Michael fand keine unbeobachtete Gelegenheit, mich zu verprügeln. Deshalb versucht er es jetzt.
Das Erdgeschoss ist finster. Die Fenster sind sehr klein, die Räume sind niedrig, wie in einem alten Bauernhaus. Hier hat Hennings seine Privatwohnung. Die Lage des Oberlehens in der ländlichen Idylle am Obersalzberg, mit Ausblick auf die wunderschönen Berge, unterstreicht Hennings durch die Gestaltung seiner Wohnung.
Ich betrete sie. Überall an den Wänden auch über dem Eingang hängen Hirschgeweihe. Neben ihnen sehe ich Felle von erlegten Rehen und Hirschen. Der Fußboden in Hellings Wohnzimmer, das ich über einen finsteren Korridor mit roten Steinkacheln erreiche, liegt voll von Fellen erlegter Tiere. In der Wohnung steht altes Bauernmobiliar, teilweise ist es bemalt. Durch die winzigen Fenster sehe ich draußen die wunderbare Gebirgskulisse des Untersberges mit vorgelagerter Kneifelspitze.
Hennings ist Hobbyjäger. Er ist ein Mann, der bewaffnet durch die Wälder oberhalb Berchtesgadens streift. Dort erlegt er Hirsche. Deren Felle und Geweihe stellt er in seiner Wohnung im Kinderheim als Trophäen aus. Ich weiß davon nichts, sondern glaube einfach, dass alles was ich an Decken und Wänden in der Wohnung hängen sehe, und alle Felle, die auf dem Boden liegen, von Hennings gekauft wurden.
In meinen Augen ist er Heimleiter und kein Jäger. Beides passt für mich nicht zusammen. Ich stehe auf der Türschwelle zu Hellings Wohnzimmer. Obwohl ich viele Gewehre an der Wand hängen sehe, kommt mir kein Gedanke, dass Hennings die Waffen benutzt.
Für mich lebt ein Jäger im Wald in einer ruhigen, einsamen Blockhütte, die in Mitten einer von Sonnenlicht durchfluteten grünen Lichtung steht. Von dort macht er sich täglich mit seiner alten Schrotflinte auf den Weg, um Hasen zu erlegen, die er sich als Mittagessen vor seiner Hütte auf einem lodernden Feuer zubereitet. Zum Mittagessen besucht ihn der Förster, der in einer grünen Jacke steckt. Beide sitzen nebeneinander auf einer sonnigen Bank vor der Jägerhütte. Sie sprechen miteinander und essen gemeinsam. Nach dem Essen geht der Förster munter pfeifend wieder zurück in seinen Wald, während der Jäger mit der schwarzen Schrotflinte noch einmal das Unterholz durchkämmt, um einen weiteren Hasen für den Abend zu jagen. Die Schrotflinte hängt in meiner Vorstellung auch in dessen Haus. Sie hängt an der Wand, über dem Bett.
Ich öffne die Tür, meine Knie zittern, ich soll mich bei Hennings melden, das hat er befohlen. Der Fernsehapparat im Wohnzimmer ist eingeschaltet. Zwei Mädchen sitzen auf den Fellen am Fußboden. Sie sehen zur bunten Mattscheibe. Sie interessieren sich nicht für mich. Es sind Heimbewohnerinnen. Eine der beiden ist Sofia, die andere erkenne ich nicht. Jetzt sieht mich Hennings in der geöffneten Wohnzimmertür. Schwerfällig erhebt er sich aus einem großen Ohrensessel. Behäbig kommt auf mich zu. Ich springe ein kurzes Stück zurück in den dunklen Korridor. Plötzlich kommt Hennings aber sehr schnell an mich heran. Ich versuche ihm auszuweichen. Hennings greift schnell und zielsicher nach meinem rechten Ohr. Ich will weg springen, da zieht er fest an meinem Ohr. Er schreit mich an. Ich bekomme eine Woche Hausarrest. Er schleift mich über den dunklen Korridor zur Haustür hinaus. Dort lässt er endlich los. Ich flitze zur Holztreppe, trample sie hastig hinauf, stolpere, schlage mir die Knie auf renne an der Holzbalustrade entlang und verschwinde hinter der Milchglastür im Zimmer.
Der Berliner erwischt mich zuvor oben auf der Toilette. Mit mehreren kräftigen Fausthieben schlägt er mir die Nase blutig. Hennings hört mein Geschrei, es hallt durchs ganze Haus. Deshalb beauftragt er ein Mädchen aus seinem Wohnzimmer, das neben Sofia vor seinem Fernseher am Boden sitzt. Sie rennt die Treppe hinauf, reißt oben die Klotür auf. Dort schlägt der Berliner auf meinen Kopf ein, den er in die Kloschüssel hält. Das Mädchen brüllt:
“Du sollst sofort runter zu Hennings kommen und mit dem Geschrei aufhören!”
Sie schlägt die Türe zu, rennt schnell die Treppe hinunter, zurück in Hellings Wohnzimmer. Sie möchte nichts von dem Film versäumen, der im Fernseher läuft.
12. Dauergäste
Mit den Fellen, Geweihen und den Gewehren an der Wand im Wohnzimmer von Hennings kann ich nichts anfangen. Meine Jägervorstellung entstammt dem romantischen Kinder- und Volksliedersingsang, der mir vom täglichen Gesang der alten Heimleiterin im Ohr liegt.
Ich liebe die alte Heimleiterin. Sie ist eine groß gewachsene Frau. Ich sehe ihr braun gebranntes Gesicht. Sie ist schwarzhaarig und trägt eine große, dunkle Sonnenbrille. Sie spielt Gitarre und sie singt so laut, dass sie auch das am lautesten falsch singende Kind nicht verleitet, eine Melodie falsch zu singen. Im Sommer sitzt sie täglich abends mit uns und den erholungsbedürftigen Kindern im Hof, zwischen den beiden Häusern. Wir sitzen in einem großen Stuhlkreis um die riesige Eiche. Sie singt täglich das gleiche Programm an Volks- und Kinderliedern. Die Lieder hasse ich noch nicht. Sie passen zu der Frau und deren Stil. Jäger und Wandersleute, grüne Wiesen und hohe, gelben Wagen, Müller und Schornsteinfeger, Vögel, Hühner und Kühe, die in den Liedern vorkommen, passen zum Leben bei der Heimleiterin im Oberlehen.
Die Frau zeigt uns und den Erholungskindern die Natur rund um unser Heim und sie weist uns auf die herrliche Landschaft hin. Sie wandert mit uns durch die Wälder, über Wiesen und Flüsse und auf die Berge, die sie genau erklärt und abends besingt. Anstatt abends vor dem Fernsehapparat zu sitzen, verbringen wir viele Abende im Stuhlkreis draußen um die riesige Eiche, wo wir singen und spielen. Die Frau singt deutsch und mir gefällt das, auch Peter macht es Spaß. Im Stuhlkreis ist es lustig, laut und deutsch. Alle Kinder plärren begeistert mit.
Weil wir monatelang das gleiche Liedgut von der alten Heimleiterin erleben und die Erholungskinder im Stuhlkreis alle vier bis sechs Wochen andere sind, können wir mit deren, immer wieder neuen Begeisterung bald nicht mehr mithalten. Die Lieder am Abend unter der Eiche fangen an, Peter und mich zu nerven. Nicht wegen der deutschen Sprache oder wegen Widersprüchen zu unserem Heimleben mit der Heimleiterin. Das alles passt gut zusammen. Es ist einfach langweilig, jeden Abend die gleichen Lieder zu singen, weil wir das Programm auswendig kennen.
Die Heimleiterin bemerkt und versteht unsere Langeweile. Nach drei Monaten kennen wir alle Lieder. Deshalb brauchen abends nicht mehr zu singen. Es genügt der Leiterin, wenn wir neben ihr sitzen und ihre Melodien summen. Das aber müssen wir tun. Darauf achtet sie genau. Sie hört, obwohl sie selbst laut singt und auf ihre Gitarre einschlägt, ob wir neben ihr mit summen oder nicht.
Die Erholungskinder wechseln permanent, fast täglich reisen neue Kinder an und alte ab. Die Heimleiterin aber bleibt. Zwischen ihr und mir entsteht deshalb ein Verhältnis von Abhängigkeit. Ich verhalte mich brav und angepasst, wie nie zuvor und niemals mehr danach. Ich habe keinen Grund, mich zu ärgern, frech zu sein oder gar, wie ich es bei Hennings und Büchtler mache, Wut aufzustauen. Ich tue alles, was die Heimleiterin sagt. Es macht mir Spaß das zu tun, und ich tue es freiwillig. Ich denke nie darüber nach, warum ich alles tue, was sie von mir verlangt. Sie verlangt es freundlich aber bestimmt. Welche Konsequenzen Verweigerung oder Trotz hätten, erfahre ich nicht, weil ich nie aus der Reihe tanze.
Peter und ich putzen und schrubben das Haus, wenn sie es will, wir ziehen die Betten in Zimmern von Erholungskindern ab, die abgereist sind, und wir bereiten die Zimmer für Neuankömmlinge vor. Wir helfen überall im Heim mit. Wir trocknen in der Küche Geschirr, schrubben den Keller und die Toiletten. Die Heimleiterin weiß immer, wo ich bin, was ich tue. Sie kann sich hundertprozentig darauf verlassen, dass ich stets befolge, was sie aufträgt und dass ich niemals aufsässig bin oder gar freche Antworten gebe.
Die alte Heimleiterin arbeitet mit meiner Angst. So lange die Situation, vor der ich Angst habe, nicht eintritt, bereitet mir das keine Schmerzen. Auf die Wirkung meiner Angst verlässt sich die Heimleiterin. Die Wirkung ist mein absoluter Gehorsam. Ich habe Angst davor, dass eines Tages auch die Leiterin abreist, wie ich es täglich mit den Erholungskindern erlebe. Peter hat die gleiche Angst, denn auch er befolgt alles. Wir arbeiten an der Organisation des Alltags der Erholungskinder mit. Erst als Hennings und Büchtler die neuen Leiter sind, werden wir unzufriedener und aufsässiger.
Ich habe nicht das Gefühl, mit der Heimleiterin in einem familiären Verhältnis verbunden zu sein. Sie fordert Gehorsam, Disziplin und Mithilfe, dafür gibt sie Zuneigung, die sie genau dosiert. Es entsteht keine vertrauliche Bindung. Stattdessen gibt es Regeln der Gleichheit, die sie aufstellt. Alle Kinder in ihrem Oberlehen sind grundsätzlich gleich. Auch Peter und ich, obwohl wir “für immer” bleiben sollen. Wir sind also eindeutig nicht gleich.
Mit der Regelung, dass grundsätzlich alle Kinder gleich sind, schafft sie den Raum, Peter und mir hin und wieder winzige “Zuckerl” zukommen zu lassen. Damit hält sie uns gehorsam, und sie umgeht eine emotionale Beziehung zwischen ihr und uns aufzubauen. An winzigen Punkten dürfen wir anders sein, obwohl alle Kinder gleich sind. So dürfen wir im großen Stuhlkreis auf dem Hof zu ihren Volksliedern summen. Wir müssen nicht mitsingen, während sie genau darauf achtet, dass alle anderen Kinder singen, und so ihre Lieder lernen.
Wegen solcher Kleinigkeiten, die für Peter und mich wichtig und groß sind, entsteht das Gefühl, dass sie mich gern hat. Weil Peter und ich nicht gleich sind, wo alle anderen Kinder am Oberlehen gleich sind, ist die Leiterin für mich sehr wichtig. Und sie ist wichtig, weil sie nicht einfach weggeht, wie die Erholungskinder.
Hennings, der neue Heimleiter und dessen mitgebrachter Buchhalter, Büchtler, sprechen stundenlang mit der alten Leiterin. Peter erzählt mir in der Pause in der Schule, dass die beiden der “Ersatz” für die Leiterin seien. Das glaube ich nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es “Ersatz” für die Leiterin geben kann. Der neue Leiter und sein Buchhalter interessieren sich zunächst nicht für uns.
Die letzten Erholungskinder sind noch nicht abgereist. Ich glaube, die beiden wissen deshalb noch nicht, wer Peter und ich sind, und dass wir als die ersten Dauergäste im Oberlehen bleiben. Die alte Leiterin mit ihrer Gitarre und ihren Erholungskindern verschwindet, ohne sich von mir zu verabschieden. Der Tag an dem sie geht ist schrecklich.
13. Keine Regeln
Tagelang ist es ruhig im Oberlehen. Ruhe, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Im Hof unter der Eiche rührt sich nichts. Abends ist der Hof leer, kein Stuhlkreis, kein lautes Mittag- und Abendessen im Freien mehr.
Die letzten dreißig Erholungskinder holt ein Reisebus ab. Ihre Zimmer bleiben leer, kein neuer Reisebus mit neuen, erholungsbedürftigen Kindern kommt den Berg hinauf gefahren. Ich fühle mich einsam. Ich glaube, ich spüre das zum ersten Mal in meinem Leben. Obwohl Peter da ist, spüre ich die Einsamkeit. Wir sprechen in diesen Tagen wenig miteinander. Ich glaube immer noch nicht daran, dass Hennings und Büchtler die neuen Herren sind, die uns von nun an sagen, was wir zu tun oder lassen haben. Die Veränderung kann und will ich mir nicht vorstellen.
An einem Abend erklärt mir Peter, dass er und ich die “Vorhut” sind, von vielen anderen Kindern, die auch “für immer” im Oberlehen wohnen sollen und dass das Oberlehen als Erholungsheim ausgedient hat. Es ist der Abend an dem Peter mit einem gestohlenen, kleinen Kofferradio aus Berchtesgaden hinauf ins Oberlehen kommt. Peter hat wie ich große Probleme mit der plötzlichen Ruhe. Sein neues Kofferradio dreht er in unserem Zimmer auf, um die Ruhe im Oberlehen zu unterbrechen.
Wir sprechen an dem Nachmittag nicht über unsere Situation. Wir sprechen über dieses geklaute Radio. Ein Diebstahl, den Peter wegen seiner Verzweiflung am Nachmittag ausgeführt hatte. Im Geschäft wurde er nicht erwischt, aber er hat Angst, dass der Diebstahl im Heim herauskommen könnte. Wegen unseres Gesprächs über das Radio, wegen unserer Überlegungen, wie wir den Diebstahl verbergen können, werden wir uns unserer Situation gewahr. Wir wissen, dass der Diebstahl niemandem auffallen wird, dass niemand bemerken wird, dass Peter dieses Radio erst seit diesem Nachmittag hat.
In der Ruhe des Abends spüren wir, dass wir nichts zu verlieren haben. Alle bisherigen Regeln sind nämlich außer Kraft gesetzt. Der Mensch, die alte Heimleiterin, von der die Regeln bisher festgelegt und überwacht worden waren, ist endgültig nicht mehr da. Weil die Heimleiterin verschwunden ist, endet die Beziehung zwischen ihr und uns abrupt. Deshalb diese unerträgliche Ruhe. Sie ist das eindeutige Zeichen für die Veränderung. Ich spüre, dass es in meiner Nähe niemanden mehr gibt, den es ernsthaft interessiert, was ich tue. Es gibt niemanden, den es interessiert, wie es den Kindern am Oberlehen geht. Es gibt niemanden der ein Auge darauf hat, dass wir nicht tun, was wir nicht tun dürften. Ich spüre, dass mit dem Weggang der alten Heimleiterin, die einzige Person verschwunden ist, die immer an uns gedacht hatte. Die Person, an der ich mich orientiert habe, an deren Urteil ich dachte, wenn ich in Gedanken die Idee entwickelte, gegen eine Regel zu verstoßen, ist verschwunden.
Den Gedanken des Verlustes kann ich nicht zulassen. Deshalb träume ich nachts und denke tagsüber, dass sie nur, wie sie es früher oft getan hat, in ihrem Wagen hinunter in den Ort gefahren war. Die alte Heimleiterin sehe ich nie wieder.
Eine neue Idee kommt, wegen der spürbaren Einsamkeit und der Ruhe, durch die ein Loch entsteht, das die verschwundene Leiterin und deren fehlende Regeln und Gesetze auf reißt. Gut an Peters Diebstahl ist, dass es ein Radio ist. Wir benutzen es, um zu konsumieren was gesendet wird. Aber es hat noch eine andere Funktion. Peters Radio unterbricht das unerträgliche Schweigen, die Ruhe in unserem Heim. Es stopft das Loch, das nicht gestopft werden kann wenigstens ein bisschen. Niemals zuvor hat Peter etwas gestohlen.
Es gibt keine Regeln mehr, die Kinder und die Leiterin sind plötzlich weg, Peter und ich wissen deshalb nicht mehr, wie wir uns zu verhalten haben, was wir zu denken und zu sprechen haben, was wir zu tun haben. Natürlich gehen wir täglich weiter in die Schule. Dort gelten weiter die bisherigen Regeln, die Lehrerin bleibt, auch die Schüler bleiben.
Nachmittags sitzen wir im Aufenthaltsraum im Oberlehen. Eine neue Erzieherin kommt. Sie betreut uns bei den Hausaufgaben. Morgens weckt sie uns, macht Frühstück, mittags und abends kocht sie.
Eine Woche später kommen die ersten neuen Kinder. Die Erzieherin erklärt, dass die wie wir “für immer” im Oberlehen wohnen. Hennings und Büchtler sind von nun an täglich im Oberlehen. Die Erzieherin verschwindet eines Tages plötzlich. Neue Erzieher kommen, bleiben für einige Monate und verschwinden. Hennings und Büchtler verschwinden nicht, sie bleiben „für immer“.
14. Wettschwimmen
Unter den neuen Ankömmlingen ist Hartmut. Hennings und Büchtler verteilen die neuen Kinder auf deren Zimmer. Hartmut schicken sie zu uns. Hartmut ist Bettnässer. Ein Problem, das er ins Oberlehen mitbringt, ein Problem, das sich erst dort für ihn zu einem wirklichen Problem entwickelt.
Schnell gewöhnen sich Peter und ich an die Neuankömmlinge nicht aber an den Umgangsstil der Heimleiter. Hennings und der Buchhalter Büchtler strahlen Brutalität und Gewalt aus. Für beide sind Schläge mit der Faust ins Gesicht oder die Magengrube alltägliche Erziehungstechniken.
Von nun an besteht eine neue Ordnung am Oberlehen. Gewalt gegen Kinder und Beschimpfungen wie: Du Armleuchter! Du Volltrottel! Du Arsch mit Ohren!. Du hirnamputierter Depp! Du Pisser! Hennings und Büchtler bringen Orientierung, sie verschaffen sich Respekt durch tägliche Demonstration von Muskelkraft und erniedrigenden Worten, mit denen sie uns betiteln. Deren Überlegenheit und ihre Macht stärken beide täglich indem sie sich Respekt verschaffen mit regelmäßigen Kopfnüsse, Ohrfeigen, Faustschlägen. Innerhalb weniger Wochen krempeln beide das Oberlehen um.
Hennings, ein kleiner, korpulenter, kräftiger Mann, bringt uns schnell bei, ihn zu fürchten Er ist unberechenbar. Dessen Schläge kommen oft im Affekt. Der Faustschlag, der mich durch die Glastür schleudert und die Kellertreppe hinunter stürzt, kommt völlig überraschend. Hennings schlägt in Momenten zu, in denen ich nicht mit solcher Gewalt rechne. Es sind seine Überraschungsangriffe und Übergriffe, die ich fürchte. Wenn er den Aufenthaltsraum betritt, schrecke ich innerlich zusammen. Ich denke sofort darüber nach, welchen Anlass ich ihm gegeben haben könnte, um wieder unvermittelt zuzuschlagen.
Auch wenn Hennings kein Wörtchen sagt, wenn er seine Hand nicht zum Schlag erhebt, spüre ich Angst vor dem Mann. Er hat Macht durch Kräfte, die er benutzt, um mich ganz klein zu kriegen. Obwohl ich schon ganz klein geworden bin, schlägt er weiterhin auf mich ein. Offenbar bin ich einer, der für Hennings eine permanete Herausforderung ist. Es kann sein, dass er mich nochmal schlägt, für etwas das er bereits vor Tagen bestraft hat. Obwohl er mich schon am Ohr durch den Flur geschleift hat, mir eine Woche Stubenarrest gegeben hat, wegen meines Geschrei im Klo des Nebenhauses, als Michael mich in die Kloschüssel drückt, kann es sein, dass er mich deshalb im Vorbeigehen, Tage später nochmal kräftig ohrfeigt. Ich bin einer, auf den Hennings immer wieder einprügelt. Ich bin ein Kind.
Weil Hartmut Bettnässer ist, nennt ihn der Heimleiter “Pisser”. Hennings betitelt alle Kinder mit Spitznamen. Dessen Spitznamen werden zu unseren neuen Namen. Mit ihnen rufen wir uns gegenseitig. Hartmut wird seinen Spitznamen „Pisser“ am Oberlehen nicht mehr los. Kein Kind entkommt der Rolle, die Hennings durch einen Spitznamen zuweist. Hennings merkt nicht, dass Hartmut nach Jahren längst aufgehört hat, einzunässen.
Manche Erzieherinnen verheimlichen vor Hennings, wenn sie morgens feststellen, dass Kinder im Oberlehen einnässen. Sie verhindern, dass Hennings diese Kinder auch mit solchen Spitznamen wie Hartmut beschimpft. Sie helfen den Kindern dabei, morgens ihre nasse Bettwäsche heimlich in die Waschküche zu schaffen. So schützen sie uns vor Hellings Hass, Wut und dessen Unberechenbarkeit. Doch keine Erzieherin schafft es, uns wirklich zu helfen, denn Hennings und Büchtler schicken sie stets nach Monaten wieder davon und holen neue Erzieherinnen.
Hellings Regeln und dessen Worte akzeptieren wir am Oberlehen sofort. Dem Respekt vor Hellings Schlägen entkommt kein Kind. Widerstand ist zwecklos. Hennings und Büchtler geben uns keine Chance. Sie überwachen alles. Irgendwann glaube ich sogar, dass beide Männer alles wissen. Sie scheinen zu wissen, was ich denke.
Eines Tages lässt mich Büchtler in seinem Büro antreten. Ich ahne nicht warum. Dann spricht er von einem neuen Kassettenrecorder, den ich mir vom Taschengeld kaufen möchte. Ich weiß nicht, wie er auf diese Idee kommt. Aber ich habe daran tatsächlich gedacht, denn mein alter Rekorder ist schon lange Zeit kaputt. Büchtler muss wissen, was ich denke, was ich will. Er erklärt, dass ich keine Chance habe, auf einen neuen Rekorder zu sparen, denn ich müsse noch lange Zeit für die Glasscheibe bezahlen, die ich kaputtgemacht habe, als Hennings mich mit einem kräftigen Hieb durch sie gestoßen hat.
Ich verstehe, das es um das Siegen geht und dass Sieger nur derjenige sein kann, der die entsprechende Kraft und Macht hat. Buchhalter und Heimleiter sagen: Was zählt in diesem Leben, ist Kraft und Stärke. Entscheidend ist, wer der Stärkere ist. Siegen wird stets der Mächtigere.
Schläge der Heimleiter Hennings und Büchtler bedeuten Knochenbrüche, Prellungen, blaue Augen und solche Dinge. Das schlimmste aber ist, dass keine Auflehnung, keine Solidarität unter uns entsteht. Stattdessen regiert mich meine Angst vor den beiden.
Heimleiter und Stellvertreter entwickeln und unterstützen unsere kindliche Brutalität. Wir sind “Schlappschwänze, Halbstarke oder Sandkastenrocker”. Muskelkraft ist die wichtigste Sache im Leben. Gewalt und Brutalität unter uns sind beste Maßstäbe, um voran zu kommen. Im Oberlehen geht es Kindern am besten, die, wie der Berliner Michael, die Kraft haben, ein System von Fahrraddiebstahl und Abkassieren schlagkräftig durchzusetzen. Wie Hennings und Büchtler, setzen Kinder im Oberlehen die eigenen Interessen wirkungsvoll mit Gewalt durch. Der Lebensstil von zwei Männern ergreift uns, und lässt uns nicht mehr los.
Kinder bekämpfen sich gegenseitig. Courage, Mut oder gar Widerstand gibt es nicht. Aufstacheln und Ärgern anderer Kinder sind gute Taten. Schwäche zeigen ist verboten, denn das provoziert Gewaltausbrüche andere Kinder. Uns regieren Hass und Ablehnung. Wir brüllen uns gehässig an und verprügeln uns. Hennings und Büchtler finden das gut. Beide behalten uns damit im Griff.
Hennings legt sich mit meinem Freund Peter an. Es geht um die jungen Mädchen, die im Heim wohnen. An die macht sich Hennings abends vor dem Fernseher heran. Die nimmt er in seinem grünen Opel Rekord mit, um irgendwo hinzufahren. Mit ihnen verschwindet er in seine Wohnung im Erdgeschoss des Nebenhauses.
Morgens sehe ich Hennings, die Sonne ist gerade aufgegangen, wie er zusammen mit einer jugendlichen Heimbewohnerin hinter dem Haus die Wiese herunter läuft. Am Vorabend fand oben am Berg ein Lagerfeuer statt. Ich bin gerade auf dem Weg zur Toilette. Draußen, vor meinem Zimmer, verstecke ich mich um halb sechs Uhr für Sekunden unter der Holzbrüstung. Von dort sehe ich, wie Hennings mit dem Mädchen in seiner Wohnung verschwindet. Über meine Beobachtungen mache ich mir keine weiteren Gedanken, denn ich bin froh, dass Hennings mich nicht sieht. Das wäre Anlass für ihn mir wieder Schläge und kräftige Kopfnüsse zu geben.
Hennings weiß, wessen Eifersucht er herausfordert, wen er ärgert, wem er seine Überlegenheit und Macht demonstriert, indem er vorführt, dass er sich ein Mädchen aus der Heimgruppe einfach nehmen kann. Es ist mein Freund Peter, den er damit ärgert. Was Hennings mit den Mädchen in seiner Wohnung macht, weiß ich nicht. Samstags sehe ich ihn, wie er abends vor dem Fernseher seinen schweren Arm auf die Schultern von Heimbewohnerinnen legt.
Weil Hennings sehr unsportlich, klein und korpulent ist, verliert er beim Wettschwimmern im Hallenbad immer. Wir sind gut trainiert, denn wöchentlich gehen wir mit der Schulklasse ins Schwimmbad. Jeder von uns hat verschiedene Schwimmabzeichen. Hennings verliert das Wettschwimmen, zu dem er uns heraus fordert. Er ist beleidigt wie ein Kind. Weil er kein Kind ist, sondern der erwachsene Heimleiter, fordert er keine Revanche.
Er wartet, bis Peter, gegen den er das Wettschwimmen an diesem Samstag verliert, vom tiefen Wasser in das seichte kommt. Im seichten Wasser spielen wir im Stehen mit Wasserbällen. Peter denkt nicht mehr an das Wettschwimmen, sondern konzentriert sich auf das Ballspiel. Hennings nutzt die Gelegenheit. Er schleicht sich von hinten heran und packt Peter. Ein typischer Überraschungsangriff, der zu Hellings Unberechenbarkeit gehört. Er rächt sich, wenn man nicht damit rechnet, weil man an das, wofür er sich rächt, nicht mehr denkt. Hennings erträgt es nicht, wenn er einem untergebenen Kind im Wettstreit unterliegt. Er ist nachtragend und er ist das älteste und stärkste Kind unter uns. Ihm sind wir ausgeliefert.
Er presst Peter in den “Schwitzkasten”. Peters Kopf wird von Hellings kräftigem Oberkörper zur Seite gedrückt. Dann reißt Hennings den Kopf kräftig unter Wasser. Ich sehe Hellings zynisches Lächeln, es spielt immer rund um seine Lippen, wenn er der Sieger ist. Hellings leicht eingefallenes Gesicht wirkt durch dessen zynisches Lächeln noch faltiger.
Peters Kopf bleibt so lange unter Wasser des Berchtesgadener Hallenbads, bis irgendetwas in dessen Trommelfell passiert. Nachdem Heimleiter Hennings von Peter ablässt, platscht Peter benommen ins seichte Wasser. Er verliert kurz den Gleichgewichtssinn. Er liegt im Wasser und scheint langsam unterzugehen. Obwohl er mit den Füßen den Boden berührt, sinkt Peters Körper. Hennings dreht sich weg. Er klettert an der Treppe aus dem Wasserbecken. Jetzt watet ein anderer Junge durch das Wasser zu Peter. Er zieht dessen Kopf aus dem Wasser. Tagelang klagt Peter über starke Kopfschmerzen und Schmerzen in einem Ohr. Nach knapp einer Woche wird er im Berchtesgadener Krankenhaus wegen eines Badeunfalls behandelt.
Im Oberlehen ist nicht mehr die Gruppe im Stuhlkreis wichtig, in der sich die Kinder abends erzählen, was sie tagsüber erlebt haben. Es werden keine Lieder zu singen gelernt. Wichtig ist nun, wer der stärkste und schnellste ist und wer vom Heimleiter und seinem Stellvertreter am wenigsten mit Schimpfworten, Kraftausdrücken, Spitznamen und Schlägen belegt wird. Wichtig ist, unverletzt davon zu kommen. Menschen, wie die alte Heimleiterin, die Abends Gitarre spielt und singt, sind Schwachköpfe, die Hennings und Büchtler „bescheuert“ nennen, wie Kinder.
15. Sandkasten
Ich wache auf. Auf dem grauen Teppichboden erkenne ich ein Trinkglas. Es liegt neben dem braunen Fuß des kleinen Wohnzimmertisches. Bevor ich einschlief, habe ich ein Glas Wasser getrunken. Ich liege auf dem Teppichboden in der Wohnung in der Hochsteinstraße. Ich höre Verkehrslärm, der heute besonders laut ist, weil es stark regnet. Ein schweres Gewitter liegt seit Stunden über Berchtesgaden. Der kurze Fußweg von der Kreuzung unten am Ende des Nonntals hat gereicht, um mich komplett zu durchnässen. Ein Angebot eines Kollegen, mit dem ich täglich nach der Arbeit zurück nach Berchtesgaden fahre, habe ich ausgeschlagen. Kaum war ich aus dem Wagen gestiegen fielen schon die ersten dicken Regentropfen. In der Wohnung zog ich mir trockene Klamotten an. Ich schaltete die Kaffeemaschine ein und setzte mich, mit einem Glas Wasser in der Hand, auf das graue Sofa. An den Kaffee erinnere ich mich nicht. Er muss noch auf der Maschine in der Küche stehen. Die Müdigkeit wegen der Fabrikarbeit hat mich derart ergriffen, dass ich sitzend einschlief. Auf dem Sofa kippte ich zur Seite, das Glas fiel aus meiner Hand, rollte auf den Boden.
Draußen ist es dunkel. Ich habe etwa zwei Stunden geschlafen. Der Lärm einer Feuerwehrkolonne hat mich geweckt. Sie donnerte vor Minuten vom Rathaus, der Feuerwehrstation, die Nonntalstraße hinunter Richtung Salzbergwerk.
Ich stehe auf und gehe in die Küche. Herbert ist offenbar trotz des schweren Regens mit seinem Sportfahrrad unterwegs. In der Küche hängt starker Kaffeegeruch. Den Kaffee kippe ich ins Spülbecken. Durch das Küchenfenster sehe ich ein trübes Bild. Berchtesgadener Straßen und Häuser bei regnerischem Wetter. Trotz der schlechten Sicht ins Tal, erkenne ich links im Fenster eine von Scheinwerferlicht hell erleuchtete Großbaustelle. Dort wird bis spät abends auf Hochtouren gearbeitet. Das Berchtesgadener Hallenbad wurde kürzlich abgerissen, an dessen Stelle entsteht auf der Baustelle das neue Berchtesgadener Erlebnisbad.
Büchtler bezahlt uns jeden Samstagvormittag, nach dem Schwimmen im Hallenbad, unser Taschengeld. Kurz vor meiner Ankunft und Arbeitsaufnahme in der kleinen Fabrik im April wird das alte Hallenbad abgerissen. Die Wohnungsnachbarn erklären, dass es einem neuen Hallenbad zu weichen habe, von dem sich der Ort weniger Verluste erwarte. Der marode Platten- und Betonbau, in dem Hennings jeden Samstag die Wettschwimmen gegen Jugendliche aus dem Oberlehen verliert, sei heute nicht mehr rentabel. Eine Ortsbesichtigung, um meine Erinnerung zu beflügeln, ist nicht mehr möglich. Ich bin nicht, wie bei meinem Besuch am neuen Oberlehen, um Jahre zu spät dran. Nur um Monate habe ich mich verspätet.
Am nächsten Tag nehme ich Urlaub von der Fabrikarbeit. Ich habe Formalitäten wie meine Anmeldung auf der Gemeinde zu erledigen. Wenn ich einen Tag frei nehme, muss ich das gut begründen. Es geht nicht so einfach, wie es an meiner Dienststelle in der Stadt ging. In der kleinen Fabrik geht es persönlicher zu. Mein Gefühl sagt mir, wo es persönlicher zugeht, brauchen solche Dinge Gründe, die gesagt werden sollten. Ich überzeuge den Chef und die Sekretärin im Büro, dass es berechtigt ist, wenn ich einen freien Tag bekomme, nicht weil ich erholungsbedürftig bin, sondern wegen der zwingenden Formalitäten, die nur tagsüber erledigt werden können.
So laufe ich gegen zehn Uhr bei herrlichem, klarem Sommerwetter die Nonntalstraße in Richtung Berchtesgadener Schloss zum Rathaus hinauf. Auf dem kurzen Fußweg dort hin kommt mir ein Gedanke, der sich im Rathaus, auf dem Einwohnermeldeamt verstärkt. Das liegt an Martina, die ich nicht gleich wiedererkenne. Martina sitzt an einem Holztisch auf dem eine grüne Arbeitsunterlage und ein Formular liegen. Sie bearbeitet das Formular. Ich betrete den Arbeitsraum und ziehe die Tür langsam hinter mir zu. Martina legt ihren Kugelschreiber auf das Formular. Sie erhebt sich und bewegt sich langsam auf mich zu. Ich stehe vor dem dunkelbraunen Tresen, sage selbstverständlich “Grüß Gott” und warte. Ich erwarte nicht, dass mich jemand kennt. Sie streckt ihre weiße Hand über den Tresen und sagt:
“Grüß dich Bernado, wie geht’s?”
Ich bin überrascht, weil mich erkennt, wen ich nicht erkenne. Deshalb schaue ich Martina verwirrt an. Martina bemerkt meine Verwirrung und stellt sich namentlich vor. Jetzt erinnere ich mich an eine Klassenkameradin in der Grundschule. Sie war in der Schule stets unauffällig, so unauffällig, dass meine Erinnerung an sie nur bis in mein Fotoalbum reicht. Dort habe ich ein Foto der zweiten Grundschulklasse. Eine der etwas dicklichen Mädchen auf dem Foto hat im Gesicht Ähnlichkeit mit dieser Frau. Wegen Martina, die offensichtlich in meiner Grundschulklasse in diesem Ort gewesen war, festigt sich mein Gedanke, meine alte Schule aufzusuchen.
Das Schulgebäude hat sich von außen kaum verändert. Der Neubau sieht inzwischen auch alt aus. Er war damals, als ich die Grundschule besuchte, noch nicht ganz fertiggestellt. Das Gebäude betrete ich nicht. Ich habe dort nichts zu suchen. Was soll ein Mensch wie ich nach so langer Zeit noch in seiner alten Schule finden? Weil ich das denke, gehe ich nach einer Umrundung des Schulhauses wieder zurück in die Wohnung.
An diesem Nachmittag sitze ich vor der alten Schreibmaschine, ohne zu fürchten, dass Herbert die Wohnung betritt und an meiner Zimmertür klopft. Das kann einige Stunden lang nicht passieren. Meine Angst, er könnte mich fragen, was ich täglich in die Maschine tippe, ist nicht da. Herbert arbeitet in der Fabrik, und ich habe einen Tag Urlaub. Ein freier Nachmittag an dem ich meinen Kopf von Gedanken an meinen Mitbewohner frei habe und meiner Erinnerung an mein Leben in diesem Ort freien Lauf lasse.
Im Rechenunterricht kann ich mich nicht konzentrieren. Mein Klassenzimmer liegt im zweiten Stock des Altbaus. Durch das Fenster sehe ich hinunter auf den Schulhof mit dem hellen Kies. Dahinter führt eine stillgelegte Bahnlinie nach Salzburg. Ich sehe den Fußweg über die Bahnlinie hinüber Richtung Schießstättbrücke, den wir Kinder immer gehen, nachdem wir samstags unser Taschengeld im Ort ausgeben.
Heute trainiert mein Lehrer mit uns das Kopfrechnen. Wir stehen vor unseren Tischen, jeder Schüler, der zum dritten Mal die richtige Lösung der Rechenaufgaben am schnellsten heraus brüllt, darf sich setzen. Ich stehe als letzter immer noch da. Ich kann mich auf das Rechnen nicht einlassen, denn ich denke an anderes. In allen Schulfächern ist das so. Meine Schulnoten sind deshalb sehr schlecht.
Ich denke vormittags in der Schule daran, was nachmittags oben im Oberlehen geschehen wird. Ich überlege, wie ich Hennings und Büchtler am schnellsten aus dem Weg gehen kann. Im Schulunterricht denke ich nicht an die Schule. Der Unterricht prallt an mir ab. Die Zeit in der Schule, die Ruhe, weil Hennings und Büchtler nicht dort sind, nutze ich, um zu überlegen, was ich nachmittags tun kann, um beiden zu entkommen. Wenn ich in der Schule nicht an Hennings und Büchtler denke, träume ich von einem schönen Leben mit Peter und anderen Kindern. Ich träume davon, mit Peter in unserer Baumhütte oben im Wald oberhalb vom Oberlehen zu wohnen. Ich träume davon, mit den beiden Heimleitern nichts mehr zu tun zu haben. Die Lehrer in der Schule erreichen mich deshalb nicht. Mein Kopf ist voll mit meinem Denken und Träumen, für Rechenaufgaben ist kein Platz mehr.
Nach Unterrichtsschluss fahren wir täglich im orangenfarbenen Schulbus auf den Obersalzberg bis zur Station Erika. Wir laufen ein kurzes Stück auf der Rodelbahn und biegen rechts ab, zum nahen Oberlehen. Nachmittags reche und fege ich mit Peter den Hof und die Wege rund um die beiden Häuser. Unser Dienst nennt sich “Sauberkeit ums Haus”, er ist bei den Heimkindern nicht besonders beliebt, weil er immer mit viel Arbeit verbunden ist.
Zwischen den beiden Häusern muss Ordnung gehalten werden. Der feine Kies soll täglich gerecht werden und sämtliche Papierschnipsel, Glasscherben und ähnliches müssen aufgehoben werden. Der gepflasterte Weg zwischen den Häusern muss täglich gekehrt sein, genauso wie die Betonterrasse. Büchtler läuft die Strecken mehrmals täglich ab. Er scheut sich nicht davor, mich abends aus dem Waschraum oder meinem Bett zu holen, wenn noch Kieselsteine, Papierschnipsel oder anderes auf den Pflastersteinen liegen.
Diese Woche haben Peter und ich zusammen diesen verhassten Dienst. Ich hasse den Dienst, weil ich ihn von Büchtler verpasst bekomme. Und ich hasse ihn, weil Kinder mit denen ich gerade zerstritten bin, die Gelegenheit nutzen, um Abfall rund um die beiden Häuser zu verteilen. Es ist eine einfache Möglichkeit, sich an mir zu rächen. Freudig stacheln sich manche Kinder gegenseitig dazu auf, den Hof und das Gelände zu verschmutzen.
An diesem Nachmittag spielt sich eine “Aufwieglerszene” ab, von der Büchtler abends spricht, mit der er sein Eingreifen beim Abendessen rechtfertigt. Nach dem Kehren und Rechen im Hof spiele ich mit Peter im Sandkasten. Das hat für uns, obwohl wir schon zwölf Jahre alt sind, immer noch großen Reiz. Mit unseren Matchboxautos, die unter den Sandkörnchen leiden, kurven wir auf Sandpisten die Berchtesgadener Berge auf und ab. Unsere Phantasiereise im bunten Matchboxflitzer führt uns an diesem Nachmittag hinauf auf die Höhenstraße eines hohen Sandberges. Wir nennen unseren Sandkastenberg den Obersalzberg. Von der Höhenstraße an unserem Obersalzberg fahren unsere Matchboxflitzer weiter hinauf zum Kehlsteinhaus. Von ganz oben rauschen wir durch zwei Sandtunnels hinunter. Unterwegs besuchen wir Kinder, die im General – Walker – Hotel, am Obersalzberg bei der Höhenstraße bei den Amerikanern wohnen. Die Kinder sprechen kein Deutsch. Peter erklärt, dass sie in „amerikanischer Sprache“ unterrichtet werden. Unsere Matchboxautos parken wir auf dem sandigen Parkplatz. Gegenüber liegt ein faustgroßer Felsbrocken. Im Sandkasten ist er das General – Walker – Hotel. Dort begrüßen uns freundliche, amerikanische Erwachsene und deren Kinder. Sie laden uns zu Limonade, Cola und Sahnetörtchen ein. Wir feiern, essen und lachen mit den Amerikanern. Nachdem wir alles gegessen haben, verabschieden wir uns mit den Worten: “Yea ok, ok allreit bei, bei tschau, tschau!”
In unseren Matchboxflitzern rasen wir weiter den steilen Berg hinunter. Auf etwa halber Höhe unseres Sandkastenobersalzberges biegen wir nach links ab. Wir fahren auf einen Parkplatz, der von Kindern sauber gefegt wird. Wir begrüßen diese Kinder freundlich. Sie schütteln uns die Hände und werfen sofort ihre Besen in die Ecke, denn sie freuen sich stets über Besuch.
Sie leben im Kinderheim. Selten kommen Fremde vorbei, die sie fragen, wie es ihnen geht. Peter und ich steigen aus unseren Matchboxwagen und fragen, wie es geht. Deshalb versammeln sich viele Kinder um unsere Autos im Sandkasten am Oberlehen. Die Kinder sehen nicht so fröhlich aus wie die Amerikaner, die wir zuvor gesprochen hatten. Sie laden uns nicht zu bunten Sahnetörtchen ein, stattdessen klagen sie uns ihr Leid. Peter und ich erkennen, dass es diesen Kindern schlecht geht.
Sie Kinder erzählen uns, dass sie von zwei erwachsenen Männern am Oberlehen nicht wie Kinder behandelt werden. Die würden sie schlagen und herumtreiben. Das finden Peter und ich interessant. Wir wollen mit diesen Kindern weiter sprechen, auch wenn es nichts Süßes bei ihnen gibt. Peter und ich steigen aus. Wir lehnen uns lässig an unseren Matchboxwagen an und hören den Kindern zu.
Die jammern und erzählen, begründen und fluchen. Ihr Fluchen verändert sich nach einigen Minuten. Es geht über in Ärger und Wut auf diese “gemeinen Männer”. Peter erzählt, dass wir erst Minuten zuvor, weiter oben am Berg fröhliche amerikanische Kinder besucht haben. Wir fragen, warum es den Kindern am Oberlehen nicht auch so gut geht. Die Antworten der Kinder wollen Peter und ich nicht glauben. Sie sagen, die beiden Männer würden dafür sorgen, dass es ihnen richtig schlecht gehe. Es wäre deren Meinung, dass es den Kindern am Oberlehen schlecht gehen müsse, nur wenn es schlecht ginge, wären sie auch brav. Peter und ich staunen ungläubig. Die Kinder erzählen mehr und mehr, und sie werden dabei wütender und wütender. Erst durch unseren Besuch erfahren sie, dass es anderen Kindern viel besser geht und dass diese Kinder trotzdem brav sind. Schließlich brüllen und schimpfen die Kinder ihre Wut ungezügelt aus sich heraus. Sie schimpfen die beiden Männer “Schweine” und “Arschlöcher”. Schnell steigen Peter und ich deshalb wieder in unsere Matchboxautos. Wir fahren die steile Bergstraße hinunter zur Schießstättbrücke. Dort parken wir unsere Matchboxwagen auf einem sandigen Parkplatz neben der Brücke. Wir ruhen uns ein wenig aus. Wir setzen uns an die schnell fließende Arche und werfen Steine ins Wasser. Dabei beruhigen wir uns. Die Wut der Heimkinder, oben an unserem Sandkastenobersalzberg, hat uns angesteckt. Wir verstehen deren Wut.
Büchtler verfolgt unser Phantasiespiel. Er steht einige Zeit hinter der Garage, neben dem Sandkasten. Er beobachtet uns und er hört zu. Auch neue Heimkinder, die vor wenigen Tagen angekommen waren, sitzen im Sandkasten und verfolgen aufmerksam mein Spiel mit Peter. Die meisten wütenden Worte stammen von mir. Je stärker ich mich in meine Phantasie steigere, desto lauter und wütender wird mein Schimpfen gegen Büchtler und Hennings. Meine Wut führt mich vom Parkplatz an der Arche noch mal laut plärrend mit meinem roten Matchboxsportwagen die steile Bergstraße am Sandkastenobersalzberg hinauf zum Kinderheim. Dort schreien die wütenden Heimkinder noch mal laut ihre Wut heraus.
Gegenüber den neuen Heimkindern spüre ich eine gewisse Verantwortung. Deshalb ist mein Spiel an dem Nachmittag so laut und ausgelassen. Es ist meine Wut über die Zustände in meinem Heim. Ich will, dass die Neuankömmlinge gleich einen ersten Eindruck vom Oberlehen gewinnen, ich will sie vor Hennings und Büchtler warnen.
Das Phantasiespiel mit Peter erleichtert mir mein alltägliches Kinderheimleben. Auch Kinderspiele im Wald, oberhalb des Oberlehens sind für mich entlastend vom täglichen Heimalltag. Die Gruppen, in denen wir durch den Wald streifen, in denen wir uns gegenseitig verfolgen und jagen, haben immer das Ziel, die Bösen zu besiegen. Unter der Gruppe der Bösen sind stets Hennings und Büchtler. Meist werden sie zum Schluss von mir und anderen Kindern hingerichtet. Hennings ist die dicke Tanne gegen die ich mein Taschenmesser schleudere. Büchtler ist die Birke neben der Tanne. Ihn bespuckte ich und traktierte ihn anschließend mit meinem Taschenmesser. Die gespitzten Pfeile unseres Indianerspiels schießen wir, im Anschluss nach einer aufregenden Verfolgungsjagd, auf die Birke Büchtler und die Tanne Hennings.
Weil mich die neu im Oberlehen angekommenen Kinder heute fragen, was für ein komisches Spiel ich im Sandkasten mit den Matchboxautos spiele, erkläre ich es ihnen so:
“Wenn du nicht sofort parierst, sobald die beiden Männer etwas von dir verlangen, wenn du ihre Befehle nicht sofort befolgst, kriegst eins in die Fresse! Büchtler schlägt brutal zu, deshalb Vorsicht! Wenn du ihn in deiner Nähe siehst: sofort das Maul halten! Auch Hennings ist brutal! Er braucht nur etwas länger, bis er zuschlägt. In deinen Hintern wollen dir Hennings und Büchtler treten. Das ist ein beliebter Spaß von denen, du wirst ihn kennen lernen. Wenn du nicht sofort verschwindest, treten sie kräftig zu. Am besten kommste hier durch, wenn du deine Klappe hältst und alles, was hier los, ist hinnimmst und alles tust, was verlangt wird. Hier brauchst du nicht selbst zu denken. Wenn du anfängst zu denken oder versuchst, dich gegen die zwei zu wehren, haste schon verloren. Die machen dich fertig, wenn du was gegen die sagst oder tust!”
Büchtler springt rot vor Wut hinter dem Holzschuppen vor. Er richtet seinen eisernen Blick auf mich. Riesig steht er vor mir im Sandkasten. Er trampelt auf unserem Obersalzberg herum. Mein roter Matchboxwagen versinkt im Sand unter Büchtlers großem Schuh. Die Schießstättbrücke liegt zusammengebrochen neben Peters gelbem Sportwagen. Für Sekunden steht mir Büchtler übermächtig gegenüber. Es herrscht Schweigen.
Für mich sind es schlimme Sekunden, die ich kenne, aber mich nicht an sie gewöhne. Ich habe das schon oft erlebt. Büchtler löst das in einem gewaltigen Schlag gegen mich auf. Die anderen Kinder sind verschwunden, geflüchtet, auch Peter. Anspannung, Schweißausbruch, glühende Hitze um meinen Kopf. Beben und Zittern am Körper. Ich kenne das seit Jahren. Hautnahe Übermacht die in Ohnmacht mündet. Die ein oder zwei Sekunden des Schweigens versuche ich, zur Flucht zu nutzen. Ich habe das Gefühl, dass Büchtler immer schneller wird, denn die Sekunden werden immer kürzer.
Ich gehe leicht in die Hocke, versuche mir so Schwung zu geben, um nach rechts aus dem Sandkasten zu springen. Büchtler erkennt das, setzt deshalb sofort seinen linken Fuß vom zertretenen Obersalzberg auf den Sandparkplatz neben der zerstörten Schießstättbrücke. Ich vor Büchtler in die Knie im Sand, befinde mich im Absprung. Ich kann meine Körperbewegung nicht stoppen, sehe Büchtlers riesigen Fuß direkt vor meiner Sprungrichtung. Ich springe. Plötzlich wird es dunkel. Mein Absprungbein schlägt gegen etwas hartes, wahrscheinlich Büchtlers Knie. Ich spüre einen heftigen Aufschlag am Kopf. Ich lande nicht sofort im Sand. Büchtlers Faust rifft hart auf mein Auge. Ich keinen Schmerz, sondern ich spüre, wie meine Hände in den Sand greifen. Jetzt schlägt mein Kinn im Sand auf. Ich höre nichts, sehe nichts, spüre keine Schmerzen. Es ist vorbei.
Peter stützt mich hinauf in unser Zimmer. Mein rechtes Auge schwillt an und schmerzt. Ich lege mich in mein Bett. Peter reicht mir einen kalten Waschlappen. Mein Magen schmerzt fürchterlich, mir ist schlecht. Büchtlers Magenschwinger hat mich nicht ganz genau getroffen. Eine Rippe ist blau und schwillt an.
Heute ist Mittwoch. Inzwischen ist es Abend. Unsere Schuhe putzen wir um fünf Uhr im Schuhputzkeller. Mittwochabend gibt es “Strammer Max”. Eine Scheibe Brot mit Schinken und Spiegelei. Das beliebteste Abendessen, das ich im Kinderheim kenne. Alle Kinder finden sich pünktlich an ihren Sitzplätzen ein. Hennings leiert das täglich gleiche Gebet herunter.
“Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast.”
Hennings brüllt “Amen!”, sofort beginnt ohrenbetäubendes Messer und Gabelklappern. Der “Stramme Max” wird hastig auf den zerkratzten Plastiktellern zerteilt. Wer noch einen zweiten “Strammen Max” möchte, muss als erster fertig sein, denn es gibt nicht für jedes Kind einen zweiten.
Für mich und Peter gibt es heute nichts zu essen. Noch bevor Hennings seinen Platz vor der Milchglastür erreicht, von wo er täglich sein Gebet in den Raum ruft, kommt plötzlich Büchtler in den Speisesaal. Hennings faltet die Finger bereits zum Gebet. Büchtlers aufgebrachte Worte an Peter und mich wartet er noch ab. Im Speisesaal herrscht in diesen Sekunden wegen des “Strammen Max”, der auf unseren Plastiktellern dampfend auf Verzehr wartet, hungriges Schweigen.
“Ihr beiden bescheuerten Sandkastenrocker! Für euch gibt’s heute nichts! Verschwindet! Aber sofort! Vor morgen früh will ich euch hier nicht sehen. Der Hof ist nicht gescheit gerecht, gleich nochmal an die Arbeit und danach ins Bett, sonst trete ich euch in den Hintern!”
Strafe durch Essensentzug gehört neben Büchtlers Schlägen zum gewohnten Programm. Einerseits rechnen wir damit, dass Büchtler uns raus werfen wird, wegen dessen Gewalt vom Nachmittag, andererseits hoffen wir darauf, dass Büchtler es vergisst. Leider hat Büchtler abends nicht frei. Er ist da, obwohl sein Porsche nicht auf dem Hof vor dem Haupthaus parkt.
Peter und ich zucken zusammen. Ich rutsche schnell ein Stück von der Holzbank. Büchtlers eiserner Blick trifft mich. Er brüllt irgendwelche Sätze und kommt schnell auf mich zu. Peter springt von der Holzbank, läuft links an Büchtler vorbei. Er wartet an der Milchglastür neben dem Klavier auf mich. Für Peter und mich ist im Bruchteil von Sekunden klar, dass wir den Raum so schnell wie nur möglich zu verlassen haben. Es geht darum, geschickt an Büchtler vorbei zu rennen, den Ausgang des Saals zu erreichen, um hinaus auf den Hof zu gelangen. Peter ist schneller als ich. Er befreit sich schneller von seinem Sitzplatz. Ich bin noch zwischen Holzbank und Tisch eingekeilt. Ich renne erst Sekunden später los. An Büchtler komme ich nicht in ausreichendem Abstand vorbei. Büchtlers Hand erwischt mich. Sie packt mich fest an meinem linken Ohr. Büchtler zerrt mich die wenigen Meter zur Milchglastür. Peter rennt hinaus auf den Hof. Ich schreie, weil ich Büchtlers harten Griff spüre. An der Tür lässt er von mir ab. Weil mein rechtes Auge noch stark angeschwollen ist, spüre ich brennenden Schmerz wegen meiner Tränen. Den Hof und Peter erkenne ich kaum. Büchtler brüllt, als ich schon den Kies vom Hof unter meinen Schuhen knirschen höre:
“Jetzt winseln wie eine Ratte, aber sonst halbstark das Maul auf reißen und Lügen verbreiten! Raus hier, du Penner!”
Sein Fußtritt verfehlt mich, denn in dem Moment, als er von meinem Ohr ablässt, renne ich sofort los Richtung Nebenhaus, wo ich Peter erkenne. Leise höre ich aus dem Speisesaal die drei ersten Worte von Hellings Gebet, das alle Kinder laut mitsprechen. Die anderen Kinder am Tisch haben Grund zur Freude, denn sie dürfen den strammen Max von mir und Peter verspeisen.
16. Gute Aussicht
Peter glaubt, dass Büchtler für seine Aufgabe im Oberlehen der falsche Mann ist. Er sagt einfach:
“Wer so brutal wie Büchtler ist, kann kein guter Erwachsener sein.”
Auch von Hennings meint er, dass der mit Kindern nicht umgehen kann:
“Hennings kann mit Kindern, außer dass er uns beschimpft und unkontrolliert auf uns einschlägt, nichts anfangen.”
Peter hört am Oberlehen von älteren Jugendlichen, wie Meiko, dass beide aus einem Heim für sogenannte schwer erziehbare Jugendliche zu uns kommen. Deshalb sagt er:
“Die beiden haben sich ihren brutalen Stil wahrscheinlich bei den schweren Jungs angewöhnt. Dass wir keine schweren Jungs sind, sondern ganz normale Kinder, wollen die zwei nicht begreifen oder sie sind zu doof es zu begreifen. Vermutlich werden die das nie begreifen. Solang die zwei hier regieren, haben wir keine Chance!”
Ich versuche genau zuzuhören, wenn Peter in unserem Versteck, zwischen den Matratzen auf dem Speicher erzählt. Ich merke, dass er sehr viel mehr über die zwei Männer nachdenkt, als ich. Er hat weniger Angst vor den beiden. Beide haben ihn noch nicht so oft verprügelt, wie mich. Ich begreife nur langsam, was Peter über beide denkt und wovon er spricht. Mit “schwach anreden” meint Peter die alltägliche Wortwahl Hellings. Der diffamiert und demütigt uns. Er lacht zynisch. Er freut sich, wenn er Wut und Hilflosigkeit in unseren Gesichtern sieht, nachdem er uns als “Pisser”, “Maulaffe” oder “Hosenscheißer” beschimpft. Peter begreift das. Er spricht nicht mit den beiden, aber er scheint sie sehr genau zu beobachten. Er liest in deren Gesichtern, was beide denken, während sie auf Kinder einprügeln oder wütend auf uns sind.
Abends, wenn es dunkel in unserem Zimmer ist, und wir in unseren Stockbetten liegen, spricht Peter darüber, was tagsüber am Oberlehen los war. Er erklärt, wie er die Situation sieht. Hennings hat ein fieses Lächeln auf den Lippen, wenn er Hartmut “Pisser” nennt. So ein Lachen hat Peter einmal im Fernsehen gesehen, in einem Kriminalfilm. Der Mann mit dem Lächeln, war in dem Film ein Mörder, der mehrere Menschen umgebracht hat, immer bei Nacht und Nebel.
Ich liege in meinem Bett, höre Peter zu und bekomme Angst. Peters Vergleich ist schauderhaft. Was Hartmut denkt, weiß ich nicht. Er liegt unter Peter im Stockbett und sagt nichts, obwohl Peter von ihm spricht. Peter ist es egal, ob Hartmut ins Bett macht, oder nicht. Er scheint das zu kennen. Es scheint ihm aber wurscht zu sein. Ich finde Hartmuts Bettgepisse sehr unangenehm. Ich mag es nicht, dass morgens unser Zimmer stinkt, wie auf dem Klo. Ich hasse Hennings, der die Zimmertür aufreißt, laut brüllt wegen „dem Pisser“, Hartmut die Decke wegreißt, so dass es noch mehr stinkt, die Zimmertür offen lässt, so dass eisige Luft von draußen herein kommt.
Spricht Peter abends nicht über das, was er über Hennings und Büchtler denkt, dann beginnt er eine erfunden Gruselgeschichte zu erzählen. Das ist unser Spiel. Nach einigen Minuten muss Hartmut weiter erzählen, danach bin ich mit der Fortsetzung dran. Schon nach Peters ersten Sätzen liege ich zitternd im Bett. Peters Geschichten fangen fast immer mit Büchtler oder Hennings an. Ich liege in meinem Bett und kann mir gut vorstellen, dass einer der beiden unser Zimmer betritt, um einen von uns, vielleicht mich, umzubringen.
Eine von Peters Geschichten geht so:
Ein Kind liegt nachts in seinem Bett. Das Bett ist zu klein für das Kind, deshalb hängen die Füße des Buben hinten herunter. Bevor das Kind ins Bett geht, sieht es im Fernsehen einen Film. Der Film war nicht lustig, sondern sehr ernst. Er handelte von den Eltern eines Jungen, die schon gestorben sind. Der Film heißt „Die Nacht der reitenden Leichen“.
Hier stoppt Peter und Hartmut ist dran, der weiter erzählt:
Der Vater des Jungen in dem Film ist Hennings. Er ist schon tot, weil ihn ein Kind aus dem Oberlehen mit einer seiner Jagdgewehre erschossen hat, während er mit einem Mädchen in seiner Wohnung vor dem Fernseher saß. Seitdem ist Hennings auf dem Friedhof der „reitenden Leichen“ begraben. Heute Nacht kommt der Junge zum Friedhof, denn in der Stadt haben sie ihm gesagt, dass heute in der Vollmondnacht die Leichen auferstehen. Am Friedhof öffnet sich tatsächlich das Grab von Hennings. Er kommt blutig, wie er erschossen wurde, heraus. Der Junge möchte mit ihm reden, schließlich ist Hennings sein Vater. Hennings aber schlägt ihm mit dem Gewehrkolben ins Gesicht, so dass der Junge sofort tot ist. Dann reitet Hennings mit seinem Pony und dem Jagdgewehr zum Oberlehen, wo er das Ponny im Schuppen neben dem Sandkasten abstellt. Er schleicht sich in das Haus und das Zimmer des Jungen, dessen Bett zu klein ist. Hellig greift mit seinen riesigen, blutverschmierten Händen zu den Beinen des Jungen und zerrt ihn aus dem Bett.
Jetzt endet Hartmuts Fortsetzung und ich bin dran. Ich zittere in meinem Bett so vor Angst, dass ich kein Wort raus bringe und schweige.
Peter glaubt, dass der Schaden, den Hennings und Büchtler anrichten, unsichtbar bleibt. Nur manchmal sieht man ihn. Die geschwollenen Augen, Wunden und Blutspritzer, die man sieht, verschwinden aber wieder. Was Peter mit dem unsichtbaren Schaden meint, kann er mir nicht genau erklären. Er sagt, es wäre etwas, das in uns passiert. Angst und Hass wären schlimm für uns. Beides würde schaden, weil wir nicht wissen, ob es vorüber gehen wird. Peter glaubt, davon würde etwas in uns für immer bleiben und das wäre für unsere Zukunft schlecht.
Vom Oberlehen haben wir eine wunderbare Aussicht. Wir blicken hinunter auf das Berchtesgadener Tal. Wir sehen den Ort Berchtesgaden und auf der anderen Seite des Tals den Untersberg. Links sehen wir den meist leicht verschneiten Watzmann. Die schöne Aussicht genießen wir aber nicht. Im Gegenteil, manchmal hasse ich sie. Ich hasse sie, weil ich denke, sie sei mein Gefängnis. Ich denke, mit der Aussicht bezahle ich dafür, dass ich mit diesen beiden Männern am Oberlehen leben muss.
Im Markt Berchtesgaden gibt es viele Touristen. Sie wollen diese Aussicht genießen und bezahlen dafür. Wenn sie nicht mehr wollen, gehen sie wieder und bezahlen danach auch nicht mehr. Ich kann nicht gehen, muss bleiben und bezahle später. So denke ich. Die Aussicht ist wunderschön. Aber für gefangen gehaltene Kinder, ist der Blick auf die schönen Berge, wegen der Überwachung durch Büchtler und Hennings eine Gemeinheit.
Besucher am Oberlehen betört die Bergwelt. Deshalb bleiben deren Augen vor anderem verschlossen. Der Besucher sieht am Oberlehen Sauberkeit und Ruhe. Hennings und Büchtler verhalten sich freundlich und zurückhaltend. Sie stehen mit den Besuchern von deutschen Jugendämtern auf der Terrasse. Von dort genießen sie die Aussicht auf die wunderbare Bergwelt. Sie machen einen Rundgang durch die beiden aufgeräumten Häuser. Dann unterhalten sie sich bei einer Tasse Kaffee und blicken über die weißblauen Bergketten.
Ist ein Jugendamt zu Besuch im Oberlehen oder kommen Eltern zu Besuch, ist es friedlich im Heim. Die Begeisterung der Besucher von unserem schönen Heim, in der überwältigenden Panoramalage einer einzigartigen Bergwelt, steht in deren Gesichtern geschrieben. Peter glaubt, die Besucher kommen in unser Heim, um schönes zu sehen. Berchtesgaden kennen viele von Fotos, Postkarten, Zeitungsartikeln. Peter weiß, dass es ein beliebter Ausflugs- und Touristenort ist, an dem wir leben. Deshalb kommen sie gerne von weit entfernten Jugendämtern angereist. Sie wollen sehen in welch schöner Lanschaft und Luft wir leben.
Die Frauen und Herren von den Jugendämtern saugen die Ruhe des Tages am Obersalzberg in unserem schönen Heim in sich auf. Im Ruhrpott, von wo Hartmut stammt, stinkt es erbärmlich nach Abgasen. Sie kommen aber auch von einem Jugendamt aus Hessen oder Baden Württemberg, wo die Landschaft nicht gebirgig ist, wie in Berchtesgaden und die Luft nicht so klar. Auch aus Berlin kommen sie, von dort stammt Michael.
Peter meint, weil sie von so weit her kommen, wollen sie genießen, was es in ihren Städten nicht gibt: Die sonnige Aussicht vom Obersalzberg ist einmalig. Alles im Heim ist sehr gut auf den Besucher eingestellt und perfekt vorbereitet. Nur ein sehr aufmerksamer Besucher, der die Optik der Bergwelt außer acht lassen würde, könnte mit viel Mühe an unseren Gesichtern ablesen, wie wir von den beiden Männern geleitet werden. Zu solchen Beobachtungen kommt es nicht. Peter beobachtet jeden Besucher ganz aufmerksam. Er liest aus den Gesichtern der Mitarbeiter deutscher Jugendämter. Er sieht deren Begeisterung und Freude, weil sie endlich mal nach Berchtesgaden kommen dürfen, um hier atemberaubende Ruhe und Landschaft zu sehen. Ein Mensch, der hier unglücklich ist, kann nur ein sehr undankbares Kind sein.
Hennings und Büchtler beschäftigen den Jugendamtsbesuch von dessen Anreise bis zur Abreise. Sie holen ihn am Berchtesgadener Bahnhof ab und bringen ihn dort hin zurück. Die romantische Bergwelt und die freundlichen Worte der Heimleiter überzeugen. Den Kindern am Oberlehen muss es sehr gut gehen.
17. Müdigkeit
Peter ist ein paar Jahre älter als ich. Ich glaube, deshalb und wegen seiner Erfahrungen sieht und versteht er mehr. Von den beiden Männern, Büchtler und Hennings, fühlt er sich oft verletzt. Unser Leben am Oberlehen nennt er eines Tages „Terror“. Ihm fallen Worte für unser Kinderheimleben ein, die ich nicht kenne. Er sagt:
“Ich finde, wir sind Gefangene. Wir sind dem Terror dieser beiden Männer beinahe wehrlos ausgeliefert. Ich kenne das. So ein Leben habe ich vor Jahren bei meinem Vater kennen gelernt. Dort habe ich ein Jahr lang gelebt. Von ihm bin ich fortgegangen, weil er und die Frau, mit der er zusammenlebt, auch auf mich einschlugen und mich kontrollierten, beinahe so, wie Hennings und Büchtler es hier im Oberlehen tun. Ich und du, wir alle müssen versuchen, irgendwie mit diesem Terror zurechtzukommen. Ich glaube, es gibt keinen anderen Platz für uns, wo wir leben könnten. Wir müssen hier lernen, mit diesen Männern klar zu kommen, denn wahrscheinlich sind alle erwachsenen Männer ganz ähnlich.”
Ich liege in unserem finsteren Zimmer in meinem Stockbett. Ich höre Peter zu. Ich versuche mir vorzustellen, was Peter schon alles erlebt haben mag. Aber ich merke, dass ich das gar nicht so genau wissen möchte.
Was am Oberlehen passiert, finde auch ich schlecht. Ich weiß aber nicht genau, warum ich es so schlecht finde, und ich bin mir nicht sicher, ob es richtig ist, dass ich es schlecht finde. Peter ist sich sicher. Er weiß, dass es am Oberlehen schlecht ist, und er findet es richtig, das auch festzustellen. Das schlechte Leben kennt er von dem Jahr, das er bei seinem Vater verbracht hat. Davon erzählt er abends im Bett. Das vergleicht er mit unserem Leben bei Hennings und Büchtler am Oberlehen. Ich liege unter meiner warmen Bettdecke und höre Peter zu:
“Ich glaube, wir haben ein Recht zu leben. Ich glaube auch, dass wir ein Recht darauf haben, festzustellen, ob es uns hier im Oberlehen gut geht oder schlecht. Nur wenn wir das feststellen, können wir vielleicht etwas verändern. Ich kenne das, denn bei meinem Vater war mein Leben schlecht. Nur weil ich das festgestellt habe, konnte ich etwas verändern. Ich habe mich entschieden, ihn zu verlassen. Ich habe im Jugendamt erklärt, dass ich von ihm für immer fort gehen will. Dann bin ich drei mal ins Jugendamt in die Stadt geflüchtet. Erst nachdem sie mich zwei mal zurück gebracht haben, haben sie mich hier her gebracht. Das andere Heim, in dem ich einmal war, wollte mich nicht mehr haben. Von hier kann ich nicht mehr fortgehen, denn ich kenne keinen anderen Ort, wo ich leben könnte. Büchtler und Hennings sind lange nicht so schlimm, wie das Leben bei meinem Vater war. Den beiden können wir täglich aus dem Weg gehen. Wir können uns im Wald und auf dem Dachboden in unseren Verstecken vor ihnen verkriechen. Das war bei meinem Vater nicht möglich. Bei dem und seiner Frau war ich Tag und Nacht bedroht. Ich konnte mich nirgendwo verstecken. Die wussten immer wo ich war. Ich konnte mich nicht ausruhen.”
Ich verstehe Peter erst viele Jahre später. Trotzdem spricht er abends im Bett immer mehr davon. Manchmal höre ich ihm nicht genau zu. Die Gedanken von Peter machen mir Angst. Ich fürchte, das stimmt, was er erzählt. Peters Vorstellungen vermischen sich mit meiner Phantasie und meinen täglichen Erlebnissen. Beim Einschlafen entstehen Träume, aus denen ich nachts hoch schrecke. Die Träume enden oft mit der Vorstellung, unser Leben am Oberlehen könnte sich so schlecht weiterentwickeln, wie es bei Peters Vater gewesen sein muss. Wenn Hennings und Büchtler unsere Verstecke finden, oder wenn sie versuchen, uns nachts umzubringen, dann werden Peter und ich das Leben bei diesen beiden Männern nicht mehr aushalten.
Es gibt aber kein anderes Leben für uns. Mit solchen Gedanken wache ich nachts auf und kann nicht mehr einschlafen. Ich spüre, dass wir am Oberlehen schlecht behandelt werden, ich kann aber nicht genau erkennen, was konkret das schlechte ist. Vielleicht möchte ich es auch nicht erkennen. Manchmal spüre ich, dass ich mich einfach gehen lassen will. Eigentlich will ich über mein Leben am Oberlehen nicht nachdenken. Ich will täglich diesen beiden Männern aus dem Weg gehen und meine Ruhe vor deren Gewalt haben. Darauf versuche ich mich jeden Tag zu konzentrieren, dafür verwende ich all meine Kräfte.
Peter will auch Ruhe haben, aber gleichzeitig will er genauer nachdenken und erkennen, was am Oberlehen vor sich geht. Peters Schlussfolgerungen sind von Abend zu Abend radikaler. Mir fällt es mehr und mehr schwer, ihm zuzuhören, denn ich habe Angst. Er sagt:
“Eigentlich versuchen Hennings und Büchtler, uns zu töten. Sie wollen dich nicht töten, indem sie dein Leben beenden. Das ist ihnen zu wenig. Sie wollen töten, was in dir steckt. Deinen Willen wollen sie brechen. Sie wollen dein Denken brechen. Dann wollen sie, dass du denkst, was sie es befehlen. So darfst du dann weiterleben.”
Peters Gedanken kann ich mir nicht vorstellen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie so etwas funktionieren soll.
Plötzlich, an einem Abend, als Peter wieder so spricht, in unserem Zimmer, kommen meine Gedanken vom Sterbenwollen. Es ist der Abend nach meinem geschwollenen, blauen Auge im Sandkasten und dem von Büchtler gestrichenen “Strammen Max”. Ich bin sehr wütend auf Büchtler und jammere von meinem Stockbett zu Peter:
“Dieses Schwein Büchtler. Ich hasse ihn! Wenn ich ihn umbringen könnte, täte ich es! Leider geht das nicht!”
Ich komme auf eine Idee:
“Also bringe ich mich selbst um!”
Zu Peter:
“Komm Peter, wir machen’s gemeinsam. Dann haben wir alles hinter uns, und wir haben endlich unsere Ruhe!”
Meine Idee überrascht Peter nicht. Er versteht meine Wut sehr gut. Das aber kommt für ihn nicht in Frage. Wenn wir uns umbringen, erklärt er, dann haben die beiden Männer ihr Ziel erreicht. Sie haben zwar nicht unseren Willen gebrochen, aber sie wären doch die Sieger über uns.
“Hennings und Büchtler sind kein guter Grund, um zu sterben. Die beiden sind unseren Tod nicht wert! Ich weiß, was für ein fieses Spiel beide mit uns spielen.”
Peter erklärt das Spiel. Es sei dasselbe, das er auch bei seinem Vater erlebt habe. Peter glaubt, es ginge Hennings und Büchtler nur um den eigenen Vorteil. Sie wollten möglichst wenig mit uns zu tun haben, und es ginge ihnen um Macht. Auch die Ehre sei starken Männern wichtig. Sehen beide ihre Ehre gefährdet, würden sie sich wehren, als wären sie Tiere im Kampf ums Überleben. Solche Tiere schlagen unkontrolliert um sich. Grundsätzlich wollen sie aber ihre Ruhe haben. Würden wir sterben, hätten sie uns endlich los und damit Ruhe. Sie hätten was sie wollen.
Manchmal denke ich, dass ich noch viel zu klein bin, um das alles zu verstehen. Manchmal will ich zu klein sein, um es nicht zu verstehen. Ich will meine Welt am Oberlehen nicht so radikal zerstört sehen. Peter will das auch nicht, sondern er versucht alles zu erklären. Ich will die Kinderidylle an meinem Oberlehen behalten. Manchmal verstehe ich Peters Worte so wenig, wie die Worte meiner Lehrer in der Schule.
Peter geht mit seinem Denken ein Wagnis ein. Er lässt einen riskanten Kitzel zu, den ich nicht bis zum Ende zulassen kann. Irgendwann höre ich nicht mehr zu und verlasse ihn und sein Denken. Ich will niemanden provozieren, indem ich nachdenke und wie Peter herausfinde, was am Oberlehen los ist. Auch ich will in Ruhe gelassen werden. Ich glaube, ich kann am Leben im Oberlehen nichts verändern.
In der Wohnung in der Hochsteinstraße riecht es ein bisschen nach Moder. Im Winter muss es darin feucht und kühl sein. Heute ist wieder so ein klarer Morgen. Es ist halb fünf Uhr. Ich sitze vor meiner kleinen Schreibmaschine. Den langen, monotonen Arbeitstag in der kleinen Fabrik sehe ich jetzt noch nicht vor mir.
Stattdessen ist mein Kopf voll von den Gedanken meines Freundes Peter. Aber ich kann dessen Gesicht oder seinen Gang nicht erkennen. Ich sehe ihn zwar über den säuberlich gerechten Hof zwischen beiden Häusern, unter der Schatten spendenden Eiche hindurch laufen, aber so sehr ich mich auch anstrenge, ich kann mich nicht an sein Aussehen, seinen Gang oder seine Bewegungen erinnern.
Das Wichtigste erkenne ich. Es ist das, was Peter seit dem Tag, an dem die alte Leiterin mit ihrer Gitarre und der riesigen, dunklen Brille verschwunden war, für mich am Oberlehen bedeutet. Von diesem Tag an ist Peter für mich mein Freund, meine Orientierung. Mit ihm vereine ich mich. An ihm halte ich mich fest. Ich verstehe, dass ich die alte Leiterin geliebt habe, aber auch, dass sie mir nie wieder gegenüberstehen wird und nie wieder, ohne mit mir zu sprechen, wissen wird, wie es mir geht. Diese Rolle übernimmt Peter.
Ich sehe Peter im Bett in unserem Zimmer im Oberlehen. Ich erinnere mich an die langen, dunklen Abende in unseren Stockbetten. Das schimmernde Licht der Nacht fällt durch die Milchglastür herein. Ich liege oben, verkrieche mich, wie jeden Abend, tief bis zur Nase unter meiner Decke. Ich bin sehr müde, so dass ich manchmal schon nach wenigen Sätzen von Peter in ein Dösen verfalle. So höre ich Peter täglich in einer Art Halbschlaf von Hennings und Büchtler sprechen. Peter beschützt mich vor den zwei Männern, denn er weiß genau, das die tun und warum sie es tun. Er kann in deren Tun ablesen, was sie denken. Damit beschützt er mich, denn wenn Peter herausfindet, dass sie uns umbringen wollen, wird er rechtzeitig Bescheid geben, damit wir fliehen können.
Ich erkenne nicht, dass es ein “für immer” in diesem Kinderheim nicht geben wird. Im Oberlehen begreife ich noch nicht, dass meine Kindheit von vorübergehender Dauer ist und dass wir, wenn wir erwachsen sind, von Hennings und Büchtler befreit sein werden. Peter spricht in Zeitvorstellungen, die für mich unvorstellbar sind. Peter überrascht mich eines abends mit folgender Idee:
“In zwanzig Jahren werden wir uns nur noch dunkel an diese beiden Männer mit ihrer Hölle aus Macht und Gewalt erinnern. In dreißig Jahren haben wir die beiden wahrscheinlich sogar vergessen.”
Um fünf Uhr morgens sitze ich an meiner kleinen Schreibmaschine und denke nicht an den kommenden Arbeitstag in der Fabrik? Stattdessen denke ich an Hennings und Büchtler. Beinahe zwanzig Jahre sind seither vergangen. Die beiden Männer habe ich noch nicht vergessen.
Peter fügt seiner Idee, dass Hennings und Büchtler darauf warten, dass wir uns selbst töten noch etwas hinzu:
“Die beiden töten, indem sie nicht töten! Das ist eine Sache, die ich von meinem Vater kenne. Aber mein Vater hat es nicht geschafft, mich zu brechen. Ich habe seinen Versuch, dies zu tun, überlebt. Seitdem ich von Hennings die Worte gehört habe:
‘Dich werde ich schon weich kochen’, vergleiche ich die beiden Männer mit meinem Leben bei meinem Vater.”
Ist Peter in Fahrt, kann ihn nichts stoppen. Im dunklen Zimmer liegt er auf seiner Matratze, starrt zur Zimmerdecke und denkt über Begründungen und Entwicklungen nach:
“Ich finde, was Hennings und Büchtler wissen müssten, aber nicht wissen wollen, ist das Schlimmste an unserem Leben hier im Oberlehen: Es ist ein Schaden unter dem wir Kinder erst später zu leiden haben werden. Sie zerstören unsere Zukunft. Deren Terror macht uns müde und kaputt. Weil die beiden dumm sind, schicken sie uns nicht auf höhere Schulen. Weil sie uns schlagen und anbrüllen, verheizen sie unsere Kräfte. Weil wir täglich überlegen müssen, wie wir ihnen entkommen können, werden wir schwächer und schwächer. Kräfte, die wir heute dafür verbrauchen, fehlen uns als Erwachsene. Müde vom Terror unserer Kindheit kommen einige von uns als Erwachsene gar nicht richtig auf die Beine.”
18. Sauberkeit
Wieder bediene ich heute in der Fabrik eine Abfüllmaschine. In milchfarbene, längliche Plastikflaschen fülle ich eine grün gefärbte Flüssigkeit, es ist ein Duschbad. Mit einem orangenfarbenen Hubwagen gehe ich gemächlich durch das Lager. Den Hubwagen ziehe ich hinter mir her. Die eisernen Rollen des Wagens schlagen gleichmäßig gegen die Fugen zwischen den schwarz gefliesten Steinplatten auf dem Fußboden im Lagerraum. Ich schlendere den dunklen Gang entlang. Das gleichmäßige Rattern des Hubkarrens habe ich im Ohr.
Das spärlich beleuchtete Lager erinnert mich an unser Versteck auf dem Dachboden am Oberlehen. Dort liegt jede Menge Gerümpel herum. Zwischen alten Matratzen haben wir uns ein Versteck gebaut. Wenn wir den Dienst “Sauberkeit ums Haus” haben, müssen wir neben der Ordnung um das Oberlehen auch für genügend Toilettenpapier auf den Toiletten sorgen. Dieses lagert auf dem Speicher. Unseren täglichen Gang dort hinauf nutzen wir für eine halbe Stunde in unserem Matratzenversteck.
Im Lager des Chefs schiebe ich jetzt meinen Hubwagen etwas umständlich, weil mir die Übung diesen Hubkarren zu rangieren fehlt, in eine Lücke zwischen Paletten mit Parfümfläschchen. Ich denke nicht an die Arbeit in der Fabrik. Ich denke an das Matratzenlager auf dem Speicher und an unser Versteck im Oberlehen.
Plötzlich tritt Jo aus einer dunklen Ecke im Lager hervor. Ich erschrecke, denn innerlich bin ich nicht hier. Jo zerrt mein Denken abrupt zurück in das Lager des Chefs. Er ist ein kleiner und manchmal sehr lauter Mann. Er ist der Lagerist. Er wird vor allem dann laut, wenn Arbeiter und Maschinisten ihre Paletten einfach irgendwo abstellen, wo sie im Lager gerade Platz finden.
In Jos Lager herrscht Ordnung. Dessen Ordnung ist für mich aber nicht zu durchschauen, weil das Lager eigentlich immer bis unter die Decke voll gestopft ist. Platz muss man sich hier meist erst schaffen. Weil ich in der Fabrik einfacher Arbeiter bin und zu den “Nichtlageristen” gehöre, stelle auch ich meine Palette gerne dort ab, wo sie nicht hingehört, wo aber Platz ist.
Aus dem Mundwinkel von Jo hängt eine glimmende Zigarette. Ich weiß nicht wer von uns beiden schreckhafter ist. Ich überrasche Jo dort, wo er eigentlich nicht sein sollte, und bei einer Tätigkeit, die er im Lager nicht tun sollte. Ich habe sein Versteck entdeckt, weiß jetzt, wo er sich aufhält, wenn man ihn nicht findet, und wo er raucht.
Peter und ich bleiben auf dem Speicher im Oberlehen in unserem Versteck stets unauffindbar. Niemals werden wir dort beim Zigarettenrauchen überrascht. Hennings und Büchtler finden uns dort nicht, weil sie uns nie suchen. Sie lassen uns dann in Ruhe, wenn wir uns nicht in deren Blickfeld aufhalten. Am Oberlehen verhalten wir uns so unauffällig, dass es keinen Grund gibt, nach uns und unseren Verstecken zu suchen.
Nie kommen wir zu spät zu unseren Hausaufgaben, die wir täglich machen. Zum Schuhe putzen, um fünf Uhr nachmittags und zu allen Mahlzeiten erscheinen wir stets pünktlich. Weil wir so sind, haben Hennings und Büchtler keinen Grund nach uns zu suchen. Wir sind unauffällig. Wir finden wir uns mit unserer Kindheit am Oberlehen ab.
Wenn wir uns über Hennings und Büchtler aufregen und meckern, tun wir dies nicht, um beide zu provozieren. Wir meckern, wenn wir glauben, dass beide nicht in unserer Nähe sind. Im Sandkasten, oben im Wald, in unserem Versteck auf dem Dachboden muss unsere Wut auf die beiden einfach raus. An diesen Orten fühlen wir uns sicher und unbeobachtet. Dass der Sandkasten nicht sicher und nicht unbeobachtet ist, um meiner Wut freien Lauf zu lassen, habe ich gelernt. Dort meckere ich seit dem Tag, als Büchtler mich brutal schlug nicht mehr.
Die beiden Männer lassen uns die Chance, ihnen aus dem Weg zu gehen. Nachmittags sind wir oben im Wald. Wir können unbemerkt auf den Speicher gelangen, wir ziehen uns abends frühzeitig, während die anderen Kinder fernsehen, in unsere Betten zurück.
Dass wir im Oberlehen die Freiheit haben, uns zurückzuziehen, ist gut. Das denke ich jetzt, weil ich Jo im Lager in seinem Versteck überrasche. Der große Vorteil im Oberlehen ist, dass Peter und ich nicht permanent den beiden Männern ausgesetzt sind. Es ist gut, dass wir den beiden Männern in Wahrheit völlig egal sind. Wir versuchen so oft wie möglich aus deren Blickfeld zu verschwinden.
Peter übertreibt, wenn er von Terror spricht. Wir haben Erholungspausen von beiden Männern. Deren Terror hat Lücken, die wir für uns nutzen, denn wir können ausweichen. Weil wir Pausen nehmen, indem wir uns verstecken halten wir es so viele Jahre am Oberlehen aus. Peter hatte bei seinem Vater keine Pausen vor dessen Gewalt. Das war Terror. Deshalb ist er froh, am Oberlehen zu sein.
Hennings und Büchtler sind Ruhe und Ordnung sehr wichtig. Sobald Ruhe herrscht, ist deren Ziel erreicht. Ob wir nun im Versteck auf dem Speicher oder im Wald sind, oder eine Strafe im Zimmer absitzen. Beide wollen nichts mit uns zu tun haben, aber sie müssen. Es ist ihr Beruf. Deshalb schlagen sie uns, denn sie mögen uns nicht, sie hassen uns und sie hassen ihren Beruf, zu dem wir gehören.
Jo steht paffend, vor mir. Ich versuche zu tun, als habe ich nicht kapiert, dass ich Jo in seinem Versteck überrasche. Ich ignoriere, dass er aus einem Winkel im Lager erscheint, wo im Grunde nichts zu tun sein kann. Auch seine Zigarette ignoriere ich. Stattdessen frage ich ihn, und versuche mich dabei im alltäglichen Tonfall des Fabrikarbeiters:
“Ist der Platz hier richtig für das grüne Badezimmerzeug?”
Weil Jo sofort begreift, dass ich mit ihm nicht darüber reden will, warum er mit brennender Zigarette aus dem hintersten Winkel des Lagers vor mir erscheint, geht er sofort zur geschäftigen Routine des Fabrikalltags über. Er brummt mich routiniert an:
“Na, na aber wirklich need! Des Zeigl passt da need her! Aber des macht nix. I schaffs scho da hi, wos hi ghört.”
Das ist mir sehr recht, denn ich finde in dem Lager eh keinen Platz und spare mir dank Jo die Zeit nach Platz zu suchen. Die qualmende Zigarette schiebt Jo hektisch im Mundwinkel hin und her. Sie ist ihm lästig, denn er weiß, dass sie im Lager nicht in seinen Mund gehört. Da sie aber nun mal da ist und qualmt, ändert er nichts daran, sondern versucht, ihr Vorhandensein durch geschäftiges Agieren zu überspielen. Mit der rechten Hand winkt er in Richtung des Lagerkorridors, den ich gerade hinter mir habe. Er zeigt auf den Platz, wo er die Palette unterzubringen gedenkt. Mit der anderen Hand entreißt er mir den Griff des Wagens, dabei schiebt er mich sanft, aber bestimmt beiseite. So übernimmt er das Kommando in seinem Lager. Eilig läuft er durch die dunkle Lagerhalle, zerrt den Hubwagen mit meiner Palette ratternd hinter sich her.
Langsam schlendere ich entlang dem Lagerkorridor zurück in die Produktionshalle. Ich denke an den Dienst “Sauberkeit ums Haus”. Wir erledigen ihn stets nachmittags, nach den Hausaufgaben. Nach dem Abendessen holen wir das Toilettenpapier vom Dachboden. Die Sache mit den Haushaltsdiensten rund um das Oberlehen ist eigentlich nicht schlecht. Durch sie sind wir beschäftigt, wenn wir uns nicht verstecken dürfen. Wir lernen uns um alltägliche Hausarbeit zu kümmern. Wir lernen, dass Ordnung und Sauberkeit nicht selbstverständlich sind, sondern von uns geschaffen werden.
Ich rege mich trotzdem oft über die Dienste auf. Hennings und Büchtler machen eine Show daraus, sie jeden Freitagabend nach dem Abendessen zu verteilen. Die Show nutzen sie, um ihre Größe und Macht zu demonstrieren. Damit treffen sie aber nur die Kinder, die das auch bemerken. Peter merkt genau, warum sie eine Show daraus machen, die Dienste zu verteilen. Es ist deren wöchentliche Gelegenheit, Kommentare und Schimpfworte an uns zu richten. Damit treffen sie uns. Damit lösen sie Hass aus. Die gehässige Art, wie Hennings Hartmut „Pisser“ nennt, ihn bis zum Schluss warten lässt, um ihm dann den Dienst zu geben, den keiner machen möchte, verpasst Hartmut jeden Freitag einen neuen Schlag. Alle anderen Kinder nennen ihn weiter „den Pisser“. Hennings gibt „dem Pisser“ den verhassten Abspüldienst in der Küche. Das macht er mit der gehässigen Bemerkung „damit du mal was anderes zu tun hast“, und „Zischen ist besser als Pissen!“. So fordert er die anderen Kinder vom Küchendienst auf, sich dem zischenden Schlagen der Köchin mit feuchten Abtrockenhandtüchern jederzeit anzuschließen, damit Hartmut viel arbeitet und „parriert“. Beide Männer haben die Macht, uns während der Erledigung der Dienste zu kontrollieren. Das tun sie, indem sie uns aufeinander hetzen. Deren Ordnung nehmen wir an. Verstehen tun wir sie nicht.
Reicht den beiden ihre Hetze gegen Hartmut nicht. Zwingen sie ihn, den Hof nochmal zu rechen. Auch ich muss oft zusätzliche Aufgaben erfüllen. Sie werden mir spontan aufgetragen. Wenn ich einem der Beiden begegne, schicken sie mich nochmal in die Küche zum Abspülen oder in den Keller zum Aufräumen im Lager. Oft habe ich das Gefühl, dass sie mich zur Wiederholung einer Arbeit nicht wegen meiner schlechten Arbeitsergebnisse zwingen, sondern um deren Überlegenheit zu demonstrieren.
Während Hennings im Affekt handelt, ist Büchtler extrem launisch. Er ist besessen von der Idee so häufig wie möglich Macht zu demonstrieren. Fühlt er sich in seiner Ehre und seiner Machtposition als Buchhalter, stellvertretender Heimleiter und Mann durch ein Kind wie mich verletzt, schlägt er aus der Laune heraus zu. Fühlt er sich einmal provoziert, lässt er nicht mehr ab. Deshalb sind Peter und ich immer auf der Hut vor Büchtler. Er hat uns in der Hand hat. Das lässt er uns spüren. Er tut das, indem er Dienste beliebig oft wiederholen lässt, das Abendessen streicht, mich ins Zimmer schickt. Es ist sehr wichtig, Büchtler und Hennings immer dann aus dem Weg zu gehen, wenn keine unbedingte Pflicht besteht, ihnen unter die Augen zu treten. Das beste ist es, nachmittags und am Wochenende so schnell wie möglich in unsere Verstecke zu verschwinden.
Der Chef ist heute nicht in der Firma. Wegen Terminen mit Auftraggebern ist er unterwegs. Deshalb fühle ich mich unbeobachtet. Deshalb scheint mir heute die Atmosphäre in der überhitzten Produktionshalle angenehmer als sonst. Es stört nicht, dass ich zur Abfüllanlage mit leeren Händen zurückkomme. Wegen meiner Gedanken und Erinnerungsversuche vergesse ich die einfachsten Dinge in der Fabrik. Deshalb schlendere einfach zurück in das Lager zu Jo. Von ihm lasse ich mich mit einer Palette leerer Duschbadflaschen ausstatten. Gelangweilt schleiche ich mit dem Hubwagen an deckenhohen Stapeln von Kartons und Verpackungsmaterial vorbei, zurück zur Produktionshalle.
Ich bin wieder im Matratzenlager auf dem Speicher im Oberlehen. Ich liege dort oben neben Peter auf einer alten Matratze. Es ist Sommer. Es ist heiß. Es müffelt nach alten Matratzen und den uralten Balken des Dachstuhls. Durch das winzige Fenster im Dachgiebel, es liegt hinaus Richtung Untersberg und Markt Berchtesgaden, fallen feine Sonnenstrahlen. Sie durchleuchten den riesigen Speicher und malen gerade Striche in den Staub der Luft. Peter hat das Fenster gekippt. Er richtet sich auf der Matratze neben mir auf und pafft an einer Zigarette. Den Qualm bläst er durch den Fensterspalt nach draußen. Es gelingt ihm nicht, alles hinaus zu blasen. In den Sonnenstrahlen sehe ich Staub und Rauch langsam den langen Speicher entlang der links und rechts gestapelten Matratzen, durch den Raum ziehen. Peter bläst jetzt Rauchringe in die staubige Speicherluft. Er spricht heute sehr langsam, beinahe bedächtig.
“Du musst versuchen, deine Wut über Büchtler zu vergessen. Irgendwie musst du das schaffen! Ich rate es dir. Tu so, als hätte dir Büchtler das blaue Auge niemals geschlagen! Darüber wütend zu sein, nützt dir nichts! Es kostet dich nur sehr viel Energie. Die Energie, die du heute in deinen Ärger über die Macht dieser Männer steckst, ist verpulvert für nichts. Vergiss deshalb möglichst schnell alles, was hier täglich passiert. Du musst Energie sparen. Deine Energie brauchst du, wenn du hier entlassen wirst!”
Peters Logik kann ich nicht folgen. Ich kann ein angeschwollenes Auge in meinem Gesicht nicht einfach vergessen. Trotzdem nicke ich. Trotzdem stimme ich Peter zu. Ich will mehr von ihm hören. Peters Worte strahlen Kraft und Sicherheit aus. Sie helfen mir, über das brutale Zuschlagen von Büchtler hinweg zu kommen. Sie helfen mir, denn sie klingen vernünftig. Ich kenne das aus der Schule. Worte die vernünftig klingen, die ich aber nicht ganz verstehe, höre ich dort gerne. Mit Peters Worten ist es das gleiche. Weil Peter sie ernsthaft vertritt, weckt er mein Interesse und beruhigt mich. Ich nehme ihn ernst, wie meine Lehrerin und meinen Lehrer, aber ich verstehe eben nicht alles.
Peter durchschaut unser Kinderheim. Ich bin der einzige, den er daran beteiligt. Peter denkt an die Zukunft. Ein Wort, das ich aus seinem Mund zum ersten Mal höre. Er glaubt an seine Zukunft. Er ist überzeugt, dass es eine Zukunft ohne die beiden Männer Hennings und Büchtler gibt. Die Zukunft bereitet er in seinem Kinderkopf vor. Für seine Zukunft will Peter “Energie sparen”.
Mit meiner Palette von Kartons leerer Flaschen komme ich wieder an der Abfüllmaschine an. Erst heute, ich glaube es ist in dem Moment, als ich den grünen Startknopf der Abfüllanlage betätige, wird mir klar, dass Peters Denken im Oberlehen hilft, es dort auszuhalten. Durch ihn weiß ich, dass wir am Oberlehen jahrelang erwachsenen Männern unterworfen sind, die nicht vernünftig sind, wie es erwachsene Menschen sein sollten. Peter ist schockiert über diese Erkenntnis. Er erwartet von erwachsenen Menschen Vernunft und Köpfchen. Das ist Peters kindliche Vorstellung von Erwachsenen. Peters Vater und diese beiden Männer zerstören seine Vorstellung radikal. Erwachsene Männer am Oberlehen sind nicht vernünftig, sondern sie denken vor allem an sich selbst. Dass sie Verantwortung für Kinder übernommen haben, ist ihnen lästig. Peter begreift das. Kinder am Oberlehen können nichts von all dem begreifen. In meiner Kindheit ist es für mich an dem Ort, wo ich bin, einfach so wie es ist. Es ist am Oberlehen einfach so, wie es ist. Wir sind Kinder und diese Männer sind die Erwachsenen, mit denen wir leben müssen.
Genauso wie ich, spürt Peter jahrelang seinen Ärger über die beiden Männer. Aber dabei belässt er es nicht. Er geht einen Schritt weiter. Peter denkt über etwas nach, worüber Kinder nicht nachdenken. Er versucht zu begreifen, warum es am Oberlehen ist, wie es mit diesen beiden Männern ist. Weil ein Kind das nicht begreifen kann, nimmt Peter seine Erinnerung an das eine Jahr, das er bei seinem Vater erlebt hatte zur Hilfe. Das bringt ihn auf die Idee, wie das Oberlehen und diese beiden Männer zu begreifen sein könnten.
Sie tun einfach nur, was ihnen persönlich recht ist. Sie tun, was sie für richtig halten. Vor allem tun sie das, was ihre Bedürfnisse und Meinungen befriedigt. Auch wenn sie für Kinder am Oberlehen verantwortlich sind, tun sie nur das. Am nächsten ist ihnen, so zu sein und zu leben, wie sie sind: Brutal, Gewalttätig und dumm. Hennings und Büchtler verstehen ihre Aufgabe am Oberlehen anders als Peter und ich es uns wünschen. Auch Peters Vater war anderes näher gewesen, als sich um das Kind zu kümmern.
Nach den ersten drei Duschbadflaschen schlage ich kräftig auf den roten Knopf. Die Abfüllmaschine stoppt, das Förderband hält an. Die Akkordarbeiterinnen, in den weißen Kitteln, stehen wie jeden Tag am Ende des Bandes. Sie warten dort auf die gefüllten Flaschen. Jetzt sehen sie mich überrascht an. Ich habe mir von Jo die falschen Flaschen geholt. Sie sind zu klein. Die ersten drei abgefüllten Flaschen laufen deshalb über. Das Transportband ist verschmiert mit grünem Duschbad. Mein schneller Schlag auf den roten Notknopf kann das nicht verhindern. Die Produktion muss ruhen. Die Anlage muss gereinigt werden.
Heute ist nicht mein Tag. Zumindest nicht für die Fabrikarbeit. Der Chef ist aber nicht da, deshalb macht mir das nichts aus. Schnell schnappen sich die Frauen große, weiße Tücher. Damit wischen sie das Förderband ab. Das gleicht einer Sisyphusarbeit, weil das Plastiktransportband tausend kleine Ritzen hat, durch die grüne Brühe tropft. Während die Frauen putzten, ziehe ich erneut mit dem Hubwagen scheppernd über die Steinplatten Richtung Lagerhalle zu Jo.
Von Erwachsenen erhofft sich Peter Gerechtigkeit. Dass Erwachsene brutal wie Hennings und Büchtler auf Kinder einschlagen, weil ihnen ihre eigenen Interessen am nächsten sind, bleibt für Peter unbegreiflich. Deshalb sucht er fieberhaft nach Erklärungen. Weil er bei seinem Vater eine gewalttätige Welt kennen lernen musste, war er in das Oberlehen gekommen. Er hofft, dass der Umgang von Hennings und Büchtler mit Kindern nicht normal sein könnte. Auch die Gewalt seines Vaters begriff er als nicht normal:
“Wir müssen vernünftige Erwachsene werden, trotz Hennings und Büchtler. Wenn das hier alles vorüber ist, dann müssen wir noch Energie zum Leben haben.” Ich lausche Peters Worten, die klingen wie ein Resümee, das er aus dem Leben bei seinem Vater und unserem Leben am Oberlehen zieht. Er ist einer, der die Hoffnung nie aufgibt.
19. Schießstand
Hennings ist leidenschaftlicher Jäger. In der Nähe des Obersalzberges, wenige Kilometer entfernt in der Oberau, unterhält er ein privates Jagdgebiet. Dorthin fährt er regelmäßig mit dem roten Kleinbus des Kinderheimes. Dort erlegt er Hirsche und Rehe. Von dort stammen die Felle und Geweihe in seinem Wohnzimmer.
In einer Nacht, Jahre nachdem mich Michael der Berliner in der Toilette wegen seines frisch lackierten Fahrrades verprügelt hatte, liege ich oben in meinem Stockbett und schlafe. Plötzlich wache ich auf. Hartmut höre ich unten im Stockbett schnarchen. Von Peter höre ich nichts. Den Wasserhahn in der Ecke höre ich leise ins Waschbecken tropfen. Von draußen schimmert durch das milchige Türglas Licht herein. Es ist eine helle Mondnacht. Gegenüber an der Wand erkenne ich die Umrisse von Peters Stockbett. Oben schläft Peter, er liegt verkrochen unter seiner Bettdecke. Nichts rührt sich, ich höre keine Geräusche, nur das Schnarchen und den Wasserhahn. Die Uhrzeit kann ich nicht feststellen, ich besitze keine Uhr. Hartmut hat eine Uhr. Aber er steckt den Arm immer so unter sein Kissen, dass ich die Zeit an seiner Armbanduhr nicht ablesen kann. Ich weiß nicht, warum ich aufgewacht bin. An einen Traum erinnere ich mich nicht. Deshalb drehe ich mich zur Seite und versuche weiter zu schlafen.
Plötzlich höre ich Geräusche von draußen. Es sind Stimmen. Ich glaube, sie stammen von erwachsenen Männern, die sich laut unterhalten. Jetzt höre ich Gelächter. Ich hebe den Kopf, um besser hören zu können. Doch die Geräusche sind schon verstummt. Ich glaube, eine Tür war kurz geöffnet worden und ist nun wieder zugefallen. Den Lärm der Erwachsenen habe ich deshalb nur ganz kurz über den Hof bis in unser Zimmer gehört. Das denke ich und ich denke auch, dass sich im Haupthaus gegenüber etwas abspielt. Deshalb drehe ich mich um. Ich sitze und stütze mich auf meine Ellenbogen. Ich konzentriere mich auf weitere Geräusche. Nichts, nur der tropfende Wasserhahn und gleichmäßiges Schnarchen. Ich sehe hinüber zu Peter. Jetzt erkenne ich, dass auch er wach ist. Er sitzt wie ich in seinem Bett.
“Haste das gehört?”
Ich nicke und frage:
“Waren das Stimmen von drüben?”
“Glaub schon, da scheint irgendwas los zu sein.”
“Was kann da los sein? Welche Leute lachen und quatschen da drüben mitten in der Nacht so laut?”
“Keine Ahnung, wahrscheinlich veranstaltet Hennings wieder irgendeine Sauferei.”
Ich habe Hennings schon öfter nachts draußen im Hof laut und unkontrolliert herum brüllen gehört. Meist kommt Büchtler dazu und versucht Hennings zu beruhigen. Nur selten gelngt ihm das, weil er Hennings immer laut und vorwurfsvoll anbrüllt, wenn der besoffen ist, worauf Hennings stets mit noch lauterem Geschrei reagiert. Einmal, es war auch mitten in der Nacht, hatten Peter und ich einen Streit zwischen beiden ganz nah verfolgt. Hellings Stimme hörte sich unkontrolliert, tief und lallend an. Auf dem kalten Holzboden, vor unserer Zimmertüre kniend, versteckten wir uns unter der Holzbrüstung und hörten beiden zu. Plötzlich verpassten sie sich knallende Ohrfeigen. Wir wagten es nur einmal für Sekunden, über die Brüstung zu blicken. Ich sah, dass Hennings auf dem Kies im Hof am Boden lag. Büchtler stand vor ihm. Er sagte etwas, das ich nicht verstand. Schließlich verschwand Büchtler im Haupthaus. Hennings blieb im Hof liegen. Peter und ich schlichen leise zurück in unser Zimmer zurück. Am nächsten Morgen lag Hennings nicht mehr da.
“Sollen wir mal schauen, was da drüben los ist?”
Meine Frage meine ich nicht ernst, denn ich habe Angst.
“Meinst du das ernst oder soll das ein Witz sein?”
Peter kennt mich gut. Er weiß, dass ich ein Angsthase bin. Ich bin von mir selbst überrascht. So etwas Mutiges frage ich sonst nie. Wegen Peter glaube ich, dass der Sinn unseres Lebens am Oberlehen auch ist, zu lernen mutiger zu werden. Er ist mutiger als ich. Ich versuche, das zu übernehmen.
“Na klar ist das ernst gemeint. Wir sollten uns leise rüber schleichen und einfach mal sehen, was da drüben vor sich geht!”
“Ok!”
Das sagt Peter sofort.
“Aber Vorsicht, wir dürfen uns von niemandem erwischen lassen. Auf Prügel von Hennings und Büchtler bin ich heute nicht mehr scharf!”
Peter steigt langsam aus seinem Stockbett. Hartmut röchelt unten weiter. Auch ich steige aus meinem Bett. Mein Körper zittert, mir ist sehr heiß. Wir ziehen unsere Schlappen über. Peter hebt die Türklinke mit beiden Händen an, dann reißt er die Tür schnell auf. Deshalb quietscht sie nur kurz. Die Nacht ist sehr frisch. Mein Zittern und Schwitzen wegen meiner Angst, geht in ein Frösteln über. Drüben im Haupthaus sehe ich, dass hinter der gläsernen Eingangstür Licht schimmert. Wir bücken uns unter die hölzerne Brüstung. Peter zieht unsere Zimmertüre wieder zu. Beim Schließen quietscht sie nicht. Wir bleiben in der Hocke hinter der Brüstung. Peter geht voraus. Die Holztreppe arbeiten wir uns gebückt hinunter. Sie endet an der betonierten Terrasse neben dem Hof. Dort verharren wir gebückt hinter dem Treppengeländer.
Im Hof unter der Eiche sehen wir keinen Menschen. Die Nacht ist klar. Der Mond scheint so hell, dass ich ein paar Papierschnipsel auf dem Kies erkenne. Auf ein Startzeichen von Peter überqueren wir schnell den Hof. Mein Herz rast. Am Hals spüre ich das Blut in den Adern pulsieren. Mir ist wieder heiß, mein ganzer Körper zittert. Das ist Mut, denke ich. Wir wagen es zu schauen, was Hennings mitten in der Nacht für einen Lärm im Haupthaus macht! Noch bevor wir an der Milchglastür ankommen, hören wir das laute Lachen mehrerer Erwachsener. Ich zucke zusammen, mein Mut verschwindet sofort. Jetzt würde ich gerne über den Hof zurück rennen und oben in unserem Zimmer unter meiner Bettdecke verschwinden. Ich kenne das. Ich wünsche immer, nicht dabei zu sein. Am nächsten Tag, wenn alles gut überstanden ist, bin ich froh, mitgemacht zu haben.
Wir stehen vor der Milchglastür. Langsam öffnet Peter die Tür, das Licht im Eingang brennt. Links neben der Tür führt eine steile, dunkle Steintreppe hinunter in den Keller. Von dort tönen Stimmen und Lachen herauf. Ich erkenne die Stimme von Hennings.
“Pass auf, den knall ich ab!”
Ich glaube, er ist wieder betrunken, denn in seiner Stimme schwingt dieses tiefe Lallen. Zweimal hintereinander kracht es laut. Ich erschrecke und zucke zusammen. Auch Peter erschrickt. Er lässt die Glastür zufallen. Sie klappert ins Schloss. Genau in diesem Moment knallt es noch ein drittes mal aus dem Keller herauf.
“Sollen wir wirklich da runter schauen?”
Meine Stimme bebt vor Angst. Von unten höre ich Hennings lachen. Peter nickt, zieht die zugefallene Glastür langsam wieder auf. An der Kellertreppe sehe ich Rauchwolken heraufziehen. Es stinkt wie an Silvester. Auf meine Frage erhoffte ich von Peter ein klares “Nein”. Meine Knie zittern heftig. Ich weiß nicht, wie lange ich mich noch auf sie verlassen kann. Ich stehe neben Peter an der Treppe. Vorsichtig steige ich die ersten beiden Stufen hinunter. Weil ich auf den Stufen abrupt stehen bleibe, sieht Peter mich fragend an. Jetzt erkennt er die Angst in meinem Gesicht.
“Nein, lassen wir das Ganze lieber.”
Peter drückt entschlossen an meinem Arm. Er schiebt mich die beiden Stufen hinauf und durch die Tür hinaus auf den Hof. Aus dem Keller knallen zwei weitere Schüsse. Ich spüre Erleichterung. Schnell tapsen wir über den Kies zurück zur Holztreppe am Nebenhaus. Gebückt arbeiten wir uns hinter der Holzbalustrade die Treppe hinauf zu unserer Zimmertür. Wir sind noch nicht ganz an der Tür angelangt, da hören wir Hellings lallende Stimme. Er spricht mit einem Begleiter. Es ist nicht Büchtler, sondern es scheint einer seiner Jägerfreunde zu sein. Wie erstarrt knien Peter und ich hinter der Brüstung. Wir hören die Schritte der Männer im Kies. Sie laufen über den Hof. Sie kommen sehr schnell näher. Hoffentlich steigen sie nicht die Treppe hinauf. Jetzt stehen beide direkt unter, nahe der Eingangstür zu Hellings Wohnung.
“Der letzte war doch a besonders guater Schuss, oder?”
Ich höre die quietschende Wohnungstüre. Sie fällt laut ins Schloss. Im Hof ist es still. Gebückt tapsen wir unter der Holzbalustrade weiter bis zu unserer Zimmertüre. Peter drückt die Klinke langsam runter und öffnet leise die Tür. Schnell verkriechen wir uns in unsere Betten.
Ich atme tief durch, Ich bin sehr froh, dass Peter meine Angst auf der Kellertreppe erkannt hat und wir nicht weiter runter gegangen sind. Hennings hätte uns erwischt. Peter flüstert zu mir:
“Ich glaube, dass Hennings im Keller mit seinem Jägerfreund einen Schießstand aufgebaut hat. Morgen früh, wenn wir im Keller unsere Jacken und Schuhe anziehen, schauen wir uns das einfach mal genauer an. Wir haben mords Glück gehabt, dass wir schnell umgedreht sind, sonst wären wir jetzt erledigt.”
Was Peter meint ist klar, wir wären Hennings direkt in die Arme gelaufen, so schnell wie der plötzlich mit dem anderen Mann im Hof war. Was Peter morgen im Keller genauer anschauen will, kann ich mir nicht vorstellen, der Rauch da unten ist bis morgen doch längst verzogen.
20. Freiwild
Am nächsten Morgen, als Hennings uns weckt, ist es wie jeden Morgen. Hennings lässt nicht erkennen, dass er eine schwere Alkoholnacht mit Schießstand im Keller hinter sich hat. Um sechs Uhr reißt er unsere Zimmertüre auf.
“Aufstehen ihr Penner, is schon sechse!”
Er tritt vor Hartmuts Bett, reißt ihm die Bettdecke vom Leib.
“Hier stinkt es wieder wie die Sau! Raus aus der Kiste du Pisser!”
Hartmuts Decke wirft er wütend in der Mitte des Zimmers auf den Fußboden. Er verlässt unser Zimmer und knallt die Milchglastür hinter sich zu. Im Zimmer stinkt es unerträglich. Die Klingeldecke von Hartmut hat nachts versagt. Hartmut nässt nur noch selten ein. Er hat vergessen, sie am Vorabend einzuschalten. Sobald Hartmuts Bett feucht wird, geht ein lauter Heulton los. Der Ton ist so unangenehm, dass ich nachts davon aufschrecke. Deshalb ziehe ich mir meine Decke stets bis über die Ohren. So höre ich den Ton nicht ganz so laut. Peter stopft sich manchmal sogar Toilettenpapier in die Ohren.
Ich glaube Hartmut leidet immer noch sehr unter seiner Einnässerei. Der Ruf des “Pissers” ist schmerzlich für ihn. Das sehe ich Hartmut an. Er sieht traurig und verbittert aus. Auch mit uns, seinen Zimmerkameraden hat er es nicht leicht. Von uns hört er keine gut gemeinten Worte, weil uns der nächtliche Krach von seiner Klingeldecke und der Gestank seiner verpinkelten Bettwäsche am Morgen nervt.
Hartmut geht es sehr schlecht im Oberlehen. Wenn draußen Fußball oder anderes gespielt wird, hat Hartmut keine Chance in eine Mannschaft aufgenommen zu werden. Wenn sich samstags, nach dem Frühstück alle Kinder im Hof jeweils zu zweit aufstellen, weil wir hinunter in den Ort ins Hallenbad marschieren, ist Hartmut der einzige, der allein da steht. Weil er von Hennings und Büchtler den Namen “Pisser” bekommen hat, schimpft ihn jeder am Oberlehen mit diesem Namen, und deshalb mag ihn keiner.
Büchtler und Hennings finden das gut. Schließlich haben sie ihm diesen Namen gegeben. Sie wollen, dass Hartmut es schwer hat. Sie wollen, dass er von allen Kindern zum Buhmann gemacht wird. Das funktioniert. Wenn im Oberlehen irgendetwas vor fällt, wenn etwas gestohlen oder zerstört wurde, und ein Schuldiger gesucht wird, fällt der Verdacht immer zuerst auf Hartmut. Alle Kinder am Oberlehen machen sich einen Spaß daraus, Hartmut zu beschuldigen, sie fragen sich untereinander:
“Vielleicht hat es ja mal wieder unser kleiner Pisser getan?”
Deshalb hat Hartmut keine Freunde. Deshalb spricht er kaum. Er zieht sich zurück. Er versucht, so wenig wie möglich aufzufallen. Bei Besprechungen, abends in der Gruppe im Gruppenraum, sagt er nichts. Er sitzt immer in einer Ecke und schweigt. Auch seine Hauswirtschaftsdienste erledigt er schweigend. Mit ihm gemeinsam will niemand einen Haushaltsdienst machen. Meist teilen Hennings oder Büchtler zwei Kinder für den Küchendienst, das Mülleimer leeren, das Fegen im Haus, oder die Sauberkeit ums Haus ein. Freitags nach dem Abendessen, bei der Verteilung der Dienste, meldet sich kein zweites Kind, um mit Hartmut einen Dienst gemeinsam zu machen.
Büchtler oder Hennings bemühen sich nicht, es Hartmut leichter zu machen. Sie tun das Gegenteil. Freitags müssen alle Kinder so lange nach dem Abendbrot am Tisch sitzen bleiben, bis auch für Hartmut ein Partner für einen Hausdienst gefunden ist. Hennings und Büchtler machen Hartmut zu einer Strafe für alle Kinder.
Es geht ihnen nicht um Gleichbehandlung, wie es der Stil der alten Heimleiterin gewesen war. Es geht ihnen darum, Hartmut fertig zu machen, denn sie lassen der Gehässigkeit auf Hartmut freien Lauf. Die beiden Männer wollen, dass Hartmut ein Außenseiter ist. Sie wollen, dass ein Kind, das mit ihm zusammen einen Dienst bekommt, sich bestraft fühlt. Hennings und Büchtler üben Kontrolle am Oberlehen aus. Sie erreichen, dass wir menschenverachtend miteinander umgehen. Schwächere werden gnadenlos bestraft, denn sie sind nichts wert. Sie können grenzenlos beleidigt und missachtet werden. Es ist ein Makel, wenn man sich mit dem wertlosen „Pisser“ abgibt. Hennings und Büchtler suchen Kinder wie Hartmut, um Schuldige an allen erdenklichen Missgeschicken, an Zerstörungen oder Diebstählen zu haben.
Peter erklärt mir, dass es volle Absicht von Hennings und Büchtler ist, Hartmut zu einem Menschen zu machen, der getreten und ignoriert wird.
„Sie wollen das, lösen es aus und unternehmen alles, damit es so bleibt. Sie beschäftigen uns damit, genauso auf Hartmut einzutreten, wie sie es tun.“
Wer im Oberlehen schwach ist, weil er Bettnässer ist, wird in der Gruppe vorgeführt. Er wird von Erwachsenen zum Abschuss freigegeben. Hennings und Büchtler kontrollieren und herrschen, indem sie uns damit beschäftigen, uns gegenseitig anzufeinden. Das ist einfach und es funktioniert. So verhindern Hennings und Büchtler zu Feindbildern zu werden. Schwächere sind Störenfriede und stets schuldig.
Wir lernen, dass es immer einen Schuldigen geben muss. Wer einmal der Schuldige ist, bleibt es. Wir erniedrigenden uns gegenseitig und dreschen die Slogans von Hennings und Büchtler nach. Wer Kinder wie Hartmut lautstark beschimpft, wer sich über sie lustig macht, dem ist Anerkennung aus der Gruppe sicher. Wer gemeine Sprüche für solche Kinder erfindet, auf dessen Seite ist das Lachen der Gruppe.
Hennings und Büchtler schweigen nicht nur, sondern sie beteiligen sich. So lernen wir, dass Anerkennung erreicht, wer andere beleidigt, beschimpft, erniedrigt, unterdrückt, lächerlich macht und wie Michael verprügelt. Wer in deren Chor einstimmt, verschafft sich neben Anerkennung in der Kindergruppe die Sympathie von Hennings und Büchtler. Wer deren Sympathie hat, schützt sich vor deren unberechenbaren Übergriffen.
Am Oberlehen entsteht ein Gefühl von Zusammengehörigkeit. Weil es schwarze Schafe gibt, auf die jedes Kind eintreten darf, ist Ordnung in der Gruppe gewährleistet. Gewaltausbrüche von Büchtler oder Hennings, wie Büchtlers Faustschläge im Sandkasten, werden ohne Aufruhr akzeptiert. So etwas gehört halt mal zum Alltag am Oberlehen, denn es trifft eh immer nur diejenigen am härtesten, die ohnehin schuldig sind. Zu denen gehöre ich, deshalb schlafe ich im Zimmer des „Pissers“.
Streitereien mit Hennings und Büchtler, die rein mit Worten geführt werden, gibt es praktisch nicht. Peter erkennt einen Grund dafür:
“Die beiden sind einfach dumm. Ihre Wortwahl ist immer dieselbe. Sie scheinen keine anderen Worte zu kennen. Vielleicht können sie gar nicht richtig mit uns reden. Deshalb schlagen sie zu.”
Heimleiter Hennings und Buchhalter Büchtler schlagen wegen ihrer Sprachlosigkeit zu. Sie werden wütend, weil sie nicht wissen, was sie sprechen sollen. Die Idee gefällt mir.
Hartmut leidet. Er hat keinen Freund im Oberlehen. Hartmuts aufgeweckter, kindlicher und bübchenhafter Gesichtsausdruck weicht mit den Jahren einer kalten Erschrockenheit. Freitags im Speisesaal brüllt Hennings Hartmut an:
“Du kleiner Pisser! Du machst diese Woche den Dienst in der Waschküche. Da kannst du deine Pisse riechen!”
HellingsWorte begleitet das spöttische Lachen der Kinder am Abendbrottisch.
Ich sehe Hartmuts Gesichtsausdruck: Erstarrt in Traurigkeit. Das bleibt so bis zum Schluss. Ich sehe Hartmut nie mehr lachen. Ich habe ihn nur in den ersten Wochen am Oberlehen lachen sehen. Hartmuts Blick wird immer starrer, bis er ihn kaum mehr verändert. Hartmut ist ein Kind, aber er sieht aus, wie ein alter, verbitterter Greis. Sein kleines rundliches Gesicht, mit der rundlichen kurzen roten Nase und seinen schmalen, pfiffigen Augen ist matt geworden. Hartmuts kindliche Wachheit ist wegen ein paar gezielter Worte der beiden Männer zerstört. Hartmuts Augen blicken starr und regungslos vor sich hin. Was über ihn gesprochen wird, wie er behandelt wird, frisst er schweigend und regungslos in sich hinein. Auf Beleidigungen und Angriffe reagiert er nicht. Was Hartmut denkt, kann ich in seinem starren Gesicht nicht erkennen.
Hartmut versteckt sich vor jedermann. Nachmittags verschwindet er im Wald. Dort ist er stets allein unterwegs. Er versteckt sich irgendwo und erscheint pünktlich, abends um fünf Uhr zum Schuhe putzen im Keller. Wenn es nachmittags regnet, sitzt er nach den Hausaufgaben im Gruppenraum in einer Ecke. Er tut nichts und spricht nichts. Er kauert dort und ist froh, wenn ihn keiner anspricht. Bei keinem Spiel macht er mit. Er wird von niemandem gefragt, ob er Lust hätte mitzumachen. Mit dem “Pisser” will niemand was zu tun haben.
Eines Nachmittags treffen wir Hartmut im Wald oberhalb des Oberlehens. Mit gebasteltem Pfeil und Bogen streifen Peter und ich durch Laubbüsche. Überraschend sehen wir Hartmut wenige Meter vor uns. Er sitzt am Rand einer kleinen Erdmulde an einem Baum gelehnt und blickt hinunter nach Berchtesgaden. Peter und ich gehen in die Hocke und beobachten ihn. Er bewegt sich nicht. Er sitzt mit verschränkten Armen und tut nichts. Er blickt über das Tal hinüber zum Untersberg. Von der Seite erkenne ich seinen starren Blick. Er wirkt regungslos und versteinert. Das erinnert mich an einen alten, verbitterten Indianer, der sein Tal überblickt und über sein zerstörtes Land und Leben nachdenkt.
Jahrelang denken wir nicht daran, mit Hartmut zu sprechen. Mit ihm verspüre ich kein Mitleid. Peter flüstert in mein Ohr:
“Ich glaube, man müsste sich um diesen Hartmut kümmern.”
Das erkennt Peter, nachdem wir jahrelang in einem Zimmer nebeneinander her gelebt haben. Ich erkenne es überhaupt nicht. Ab dem nächsten Tag sitzt auch Hartmut mit in unserem Versteck. Es ist der Tag, an dem Peter beginnt, sich in einem gestohlenen Schreibheft aus der Schule manches aufzuschreiben, das wir im Versteck auf dem Speicher miteinander besprechen.
Im ersten Gespräch mit Hartmut im Versteck reden wir darüber, dass Hartmut jahrelang in unserem Zimmer geschlafen hat und wir ihn niemals in unsere Gespräche miteinbezogen haben. Peter sagt, dass ihm das Leid tut. Er habe Hartmut jahrelang missachtet. Wir beide, Peter und ich, wären jahrelang auf der Welle der Ablehnung mit geschwommen. Das hatten die beiden Männer ausgelöst. Jahrelang hätten wir auf Hartmut nicht anders reagiert. Wir waren nicht besser mit ihm umgegangen, als alle anderen Kinder im Oberlehen. Was Hennings und Büchtler anrichten, erklärt Peter, dafür falle ihm nur das Wort “unmenschlich” ein. Unmenschlich daran ist, dass wir Kinder jahrelang auf engem Raum zusammenleben und dabei doch nichts anderes miteinander zu tun haben, als uns gegenseitig zu bekriegen, anstatt Freundschaften miteinander zu schließen. Lange Jahre waren wir zu keinem Angebot an Hartmut in der Lage. Erst an diesem Nachmittag, auf dem Dachboden, lassen wir Hartmut an unserer Freundschaft teilhaben.
21. Löcher
Vor dem Frühstück biegen Peter und ich, anstatt geradeaus in den großen Speisesaal zu gehen, nach links die Kellertreppe hinunter. Unten riecht es nicht mehr nach verbranntem Pulver. Die hintere Kellertür steht offen. Frische Luft zieht in den Keller. Peter knipst das Licht an. Auf den ersten Blick sehen wir keine Spuren. Die Vorgänge der vergangenen Nacht scheinen ungeschehen. Unsere Jacken hängen an ihren Haken, die Schuhe stehen sauber aufgereiht, alles sieht aus, wie gewohnt. Peter streift mit einer Hand die gelben Regenjacken entlang. Ich bin enttäuscht von der alltäglichen Disziplin, welche die ordentlichen Schuhreihen und gelben Jackenreihen ausstrahlen. Ich hoffe an diesem Morgen das absolute Chaos in unserem Bekleidungskeller anzutreffen. Ich erhoffe mir, sehen zu können, was Hennings und sein Jägerfreund nachts im Keller angerichtet haben. Ich hoffe auf einen verwüsteten, von Gewehrschüssen zerschossenen Raum. Stattdessen hängt und steht alles ordentlich aufgereiht wie jeden Tag.
Keine Spuren vom Lärm der vergangenen Nacht. Vielleicht habe ich von der Knallerei nur geträumt? Vielleicht habe ich von einer wilden Jägerschießerei in unserem Kleiderkeller geträumt, weil ich Hennings und Büchtler so hasse. Vielleicht habe ich davon geträumt, dass Peter und ich nachts leise über den Hof tapsen, im Dunkeln an der Kellertreppe stehen und Schüsse aus dem Keller hören. Vielleicht haben wir nachts gar kein verbranntes Schießpulver an der Treppe gerochen. Dann zitterte ich in der Nacht auch nicht ängstlich auf den ersten Kellertreppenstufen, dann hörte ich Hellings betrunkene, lallende Stimme gar nicht dröhnen. Weil ich das denke, sage ich zu Peter:
“Komm Peter, wir gehen lieber schnell nach oben zum Frühstück.”
Peter nickt. Ich glaube, auch er zweifelt an dem Vorfall der vergangenen Nacht in diesem Keller.
Ich stehe auf den ersten Stufen der Kellertreppe hinauf zum Speisesaal. Peter streift noch mal über eine Reihe gelber Gummijacken. Da fällt etwas herunter. Es schlägt auf dem steinernen Kellerfußboden auf. Das klirrt metallisch. Es ist ein helles, rundes Metallteil. Es rollt auf dem schwarzen Steinboden, an der Linie grüner und gelber Gummistiefelspitzen vorbei. Langsam tapse ich die ersten Treppenstufen wieder hinunter. Vor einer grünen Gummistiefelspitze sehe ich die Metallkapsel. Peter hebt das Ding auf. Es ist eine Patronenhülse, die da auf dem schwarzen Steinboden liegt. Unser gemeinsames Erlebnis der vergangenen Nacht, an dem wir gerade gezweifelt haben, entpuppt sich als die Wirklichkeit.
Vom Treppenabsatz schaue ich zu Peter. Der nimmt die gelbe Regenjacke, hinter der das Metallteil heruntergefallen war vom Haken. Da fällt ein Brocken Mörtel von der Wand und prallt auf den sauberen, schwarzen Steinboden. Beim Aufprall zerbröckelt er in tausende größere und winzigste Stückchen. Sie flitzen auf dem glatten Boden entlang. Die saubere Disziplin geradliniger Kinderschuhreihen auf dem hochglanzpolierten, dunklen Steinfußboden ist vorbei. Wir nehmen mehr und mehr Jacken vom Hacken, überall bröckelt es wegen Einschusslöchern. Den Fußboden und unsere sauber geputzten Schuhe bedeckt zerborstener Mörtel.
“Die haben hier tatsächlich herum geballert! Das haben wir also nicht geträumt”, flüstert Peter ungläubig. Er hängt die Jacken wieder an ihre Haken.
Nach dem Frühstück, beim Anziehen von Jacke und Schuhe, finden Peter und ich, dicht neben unseren vom Mörtel verstaubten Schuhen eine weitere Patronenhülse. Andere Kinder finden hinter ihren Jacken die Einschusslöcher. Einige Kinder haben Einschusslöcher in ihren Regenjacken. Die Jägerfreunde von Hennings haben bei ihrer Schießübung nicht dafür gesorgt, die Jacken abzuhängen.
Für Hennings ist die Meldung der Kinder, dass ihre Jacken durchlöchert sind, ohne Bedeutung. Er reagiert uninteressiert. Er macht keine Anstalten, den fragenden Kindern etwas zu erklären. Er versucht aber auch nicht, etwas zu vertuschen. Er sagt:
“Es kommt halt mal vor, dass alte Jacken löcher haben.”
Zwei Kinder, die sich mit ihren durchlöcherten Jacken bei Hennings melden, schickt er in die Kleiderkammer.
“In der Kleiderkammer gibt es genügend Jacken ohne Löcher!”
22. Rostige Nägel
Nach dem heutigen Arbeitstag, an dem ich in der kleinen Produktionsfabrik beinahe alles falsch gemacht habe, fahre ich nicht mit dem Arbeitskollegen in dessen Wagen zurück nach Berchtesgaden. Am heutigen Feierabend kann ich mich von meinen Gedanken an das Oberlehen nicht lösen. Deshalb gelang mir, an meiner Abfüllmaschine praktisch nichts. Heute ging alles was ich in der Firma angepackt habe schief. Mein Tagesergebnis ist gleich null. Der Produktion, die dem Chef so wichtig ist, habe ich heute keinerlei Nutzen gebracht. Mit mir selbst bin ich am Feierabend um fünf Uhr nachmittags trotzdem ganz zufrieden. Meine Zufriedenheit hat mit meinem heutigen Arbeitsergebnis in der Fabrik nichts zu tun. Sie hängt mit den vielen Gedanken an das alte Oberlehen zusammen, die mir während des heutigen Arbeitstages gekommen sind. Wegen meiner vielen Gedanken weiß ich, was ich morgen früh um fünf Uhr in meine braune Schreibmaschine tippen werde.
Weil der Chef heute nicht in seiner Fabrik gearbeitet hat, war ich heute Morgen ausnahmsweise selbst mit meinem Wagen zur Arbeit gekommen. Deshalb kann ich jetzt, an diesem sonnigen Feierabend, mit dem Wagen die steile Bergstraße hinauffahren. Ich habe genügend Zeit, um in aller Ruhe den Wagen die steile, kurvenreiche Straße auf den Obersalzberg zu steuern.
Weit oben, auf dem Parkplatz vor dem General – Walker – Hotel, an der breiten Höhenringstraße, die hinüber Richtung Hoher Göll und Jenner führt, stelle ich den Motor ab. Ich steige aus dem Wagen. Der Parkplatz ist voll mit japanischen und anderen asiatischen Kleinwagen. Sie alle haben amerikanische Zulassungen. Auf dem Parkplatz finde ich nur zwei große Limousinen amerikanischer Bauart. Wie in meiner Kindheit betrachte ich diese Riesen genau.
Der Parkplatz ist voll von riesigen US-Limousinen. Hennings fährt uns mit dem winzigen roten Fiatbus bis vor das Hotel. Auf dem Parkplatz steigen wir neben einer hellbraunen Riesenlimousine aus. Der rote Fiatbus sieht neben den amerikanischen Straßenkreuzern aus, wie eine Maus neben einem Elefanten. Peter ist begeistert. Wir gehen sehr langsam über den Parkplatz, denn die Autos so nah zu sehen, ist raumhaft. Ich vergesse, dass uns das eigentliche Kinderfest noch bevorsteht. Die Autos allein sind wie ein Fest.
„Sieh dir den Schlitten an, der sieht genauso aus, wie der riesige Kübel in Lässie!“, ruft mir Peter zu. Tatsächlich hat er einen Kombi gefunden, der außen eine Holzverkleidung zu haben scheint. Ich sehe mir den Wagen genau an, würde am liebsten einsteigen, doch da pfeift uns Hennings, der mit einer beleibten Frau spricht, zurück. Die amerikanische Frau führt uns in den Raum, in dem sich die bunten Tortenberge für das Kinderfest stapeln.
Heute, zwanzig Jahre später, möchte ich das Hotel noch einmal betreten. Ich will versuchen, den Raum zu finden, in dem ich damals mit Peter und anderen Kindern das Kinderfest gefeiert habe. Schon stehe ich vor dem Hoteleingang. Dort lese ich ein kleines Schild.
“Entrance only for US-Military”.
Trotzdem trete ich dicht an die Tür heran. Langsam drücke ich sie auf, sie ist sehr schwer. Auf dem Fußboden liegt ein roter Samtteppich. Mein Blick liegt auf einem Paar schwarzer Lederstiefel. Es sind Militärstiefel. Langsam wandern meine Augen an diesen Stiefeln hinauf. In ihnen stecken die Beine eines Mannes. Er trägt Militärhose zu einer Uniform. Ich schiebe meinen Blick über seine graue Militärjacke, komme dort an einigen glänzenden Abzeichen vorbei, erreiche seinen schmalen Hals und lasse meine Augen schließlich an seinem fragenden Gesicht kleben. Der Mann ist Amerikaner, er spricht Englisch.
Auf der Schule habe ich jahrelang Englisch gelernt. Aber heute ist mir, als hätte es diese intensiven Lehrjahre nie gegeben. Von der Sprache, die Peter und mir damals so gut gefallen hatte, in dessen Tonfall und Unverständlichkeit wir geflüchtet waren, verstehe ich heute immer noch nichts. Ich kann dem amerikanischen Soldaten den Grund meines Erscheinens nicht erklären. Stattdessen stottere ich hilflos:
“Sorry Mister, ah Sir! I’m not able to talk to you. I think I have to leave this place. Thank you, good bye.”
Mit diesen Worten lasse ich die schwere Eingangstür vor dem Mann zufallen.
Ich bleibe noch Minuten im Wagen auf dem Parkplatz vor dem ehemaligen Platterhof sitzen. In mir spüre ich Unsicherheit. An meinem Vorhaben arbeite ich seit Wochen. Ich zweifle jetzt aber an dessen Sinn. Meine Gegenwart heute in dem Ort, in der kleinen Fabrik, an den monoton scheppernden Produktionsmaschinen sieht aus, als hätte es meine Vergangenheit am Oberlehen nicht gegeben. Es fällt mir von Tag zu Tag schwerer, meine Vergangenheit aufzusuchen.
Vor der Windschutzscheibe sehe ich eine Gruppe amerikanischer Uniformierter. Sie kommen durch die schwere Eingangstür des Hotels hinter der ich gerade den amerikanischen Soldaten gesehen habe.
Weil die Vergangenheit zu meinem Leben gehört, gehört auch die Suche nach ihr zu meinem Leben. Weil ich die Vergangenheit begreifen möchte, muss ich sie erst wieder finden. Wer finden will, muss suchen. So einfach ist, was mir so schwer zu werden scheint.
Draußen überquert die Gruppe Amerikaner die gepflasterte Straße. Jetzt verteilen sich die Soldaten auf mehrere Kleinwagen und einen der beiden großen US-Straßenkreuzer. Ich höre startende Motoren. Die große, braune Limousine rollt als erste die steile Bergstraße Richtung Berchtesgaden hinunter. Ihr folgen fünf kleine, bunte japanische Autos
Vielleicht bin ich zu spät dran? Die heutige Zeit ist bunt und vielfältig. Jetzt starte auch ich den Motor. Ich lenke das Fahrzeug über den gepflasterten Parkplatz vorbei an den vielen bunten Autos. Jetzt rollt mein Wagen die steile Bergstraße hinunter. Im zweiten Gang bremse ich mit dem Motor. Die Zeit heute ist für mich eine andere geworden. Mich interessiert trotzdem was war. Deshalb kurve ich an diesem Berg herum und suche nach Spuren meiner Vergangenheit. Deshalb mündet mein Vorhaben, in dem schönen Ort zu leben und in der kleinen Fabrik im romantischen Industriegebiet zu arbeiten, in meiner Suche auf dem Obersalzberg.
Rechts durch das Wagenfenster erkenne ich das amerikanische Erholungszentrum mit den Skiliften. Nach mehreren Kurven, noch ein gutes Stück oberhalb der Station Erika biege ich nach links ab. Es ist eine schmale Straße. Ich kenne sie. Ich überquere die Rodelbahn. Den Autofahrer mahnt auch im Sommer ein Warnschild zu Rücksichtnahme auf querende Schlittenfahrer.
Oberhalb unseres Waldes über dem Oberlehen führt diese Straße bis hinüber zur Mittelstation der Gondelbahn mit ihren roten Kabinen. Sie führt von der Schießstättbrücke im Tal hinauf bis an die Höhenringstraße am Obersalzberg. Geräuschlos gleitet eine rote Gondel über meinen Wagen hinweg. In der Gondel sitzen Menschen mit Fotoapparaten und Ferngläsern. Sie suchen in der schönen Landschaft nach Erholung.
Ich bin hier, um zu graben. Ich kann die genauen Ereignisse von damals im Oberlehen heute aber nicht recherchieren. Deshalb versuche ich zu graben, um etwas von meinem Leben am Oberlehen noch einmal zusammen zu bauen. Ich will abschließen, was bisher nicht abgeschlossen und deshalb nicht verschlossen ist. Deshalb mein gieriger, schweifender Blick.
An der Mittelstation der Gondelbahn biege ich von der kleinen Straße rechts ab. Ich fahre auf einer sehr schmalen Straße wenige Meter hinunter. Oberhalb der Gaststätte “Schöne Aussicht” stelle ich das Auto ab.
Es gibt keinen Grund an diesen Ort zurückzukommen. Ich will hier nicht arbeiten. Ich habe hier keine gute Vergangenheit verloren, die es lohnt, sie nochmal aufleben zu lassen. Die Jahre hier sind verlorene Jahre gewesen. Deshalb komme ich zurück! Was sind verlorene Jahre? Ich bin hier, um zu klären, was das ist, um auch das verlorene abzuschließen.
Deshalb will ich Teile meiner Vergangenheit so aufschreiben, wie sie mein Kopf hergibt. Ich habe eine durchlöcherte Vergangenheit. Das Oberlehen hat Löcher in meine Kindheit geschossen. Sie sind, wie der Mörtel an den Wänden im Schuhputzkeller, nach der Schießerei mit den Jagdgewehren, heraus gebrochen. Ich will die Löcher stopfen! Um mein Denken zu beflügeln, suche ich den Ort auf, an dem sich Stücke finden, die in meine Löcher passen! Meine Vergangenheit ist zerschossen, wie ein Schweizer Käse.
Aber mir fehlt noch die Logik in meiner Suche. Ich tappe ständig in die Löcher. Aber ich finde keine Antworten. Ich erinnere mich immer an die gleichen Fragen. Aber ich kann nichts finden, womit ich erklären kann, was warum geschah. Die Löcher bleiben Löcher. Was ich suche habe ich gefunden. Es ist mein Schicksal, an diesem Ort eine durchlöcherte Kindheit gelebt zu haben. Es war ein dumme Zufall, dass es zwei dumme Männer waren, die mich hier jahrelang in der Hand hatten. Das erkenne ich jetzt und denke trotzdem, dass nur ein Spinner deshalb seine Existenz in der Stadt aufgibt. Wochenlang in einem touristischen Kaff zu arbeiten, um Löcher der Vergangenheit zu finden und noch weiter aufzureißen. Was für ein Spinner muss sein, wer das heutzutage macht!
Auf dem Parkplatz über der “Schönen Aussicht” werfe ich die Wagentür ins Schloss. Ein steiler Fußweg führt mich begab. Jede Biegung, jede Erhebung erinnert mich an Peter und Hartmut. Wir sind oft hier hinauf und runter gelaufen. Er führt zum Wald, oberhalb des Oberlehens. Dort im Buchenwald finde ich unsere Lichtung wieder. Es ist wie damals. Der trockene Waldboden knistert, denn er ist dick belegt mit braunen und roten Buchenblättern. Ich finde die riesigen Bäume, gegen die wir unsere Taschenmesser warfen. Ich finde undere Spuren an den Bäumen auf unserer Lichtung, die wir mit Taschenmessern den dicken Buchen zugefügt haben. Ich lese an der breiten Buche, am Felsbrocken unseres Aussichtsplatzes, die Initialen von Peter. Ein dickes „P“, dessen Bogenlinie Peter immer mit einem Schwung nach oben versah, so dass es wie ein O aussieht. Das „P“ ist nach so langer Zeit immer noch deutlich zu sehen. Ein gutes Stück darunter erkenne ich auch Hartmuts „H“. Obwohl Hartmut nur einen ganz dünnen Schnitt geführt hat, ist sein „H“ noch nicht von der Buche verschluckt. Mein „B“ kann ich leider nicht finden. Stattdessen erkenne ich noch ein riesiges „M“, das der Berliner Michael Jahr für Jahr an der Buche erneuert hat, um uns zu provozieren, denn er wollte immer der Stärkste sein.
Auf den gewaltigen Bäumen hatten wir Baumhütten gebaut. Dazu benutzten wir riesige alte Nägel, die wir auf dem Dachboden im Oberlehen fanden. Viele Nägel finde ich verrostet wieder. Sie sind über die Jahre mit den dicken Bäumen verwachsen. Vereinzelt sehe ich alte Bretter. Sie baumeln hoch oben im Wind.
Ich suche und finde unter alten Laubbäumen unser Versteck. Jeden Nachmittag saß ich mit Peter und später auch mit Hartmut in der Mulde, die bedeckt ist von Laub. Ich setze mich in die Mulde auf meinen Platz. Im leichten Wind höre ich das Quietschen von einem alten, morschen Brett, das weit oben in einer Baumkrone hin und her geblasen wird.
Im letzten Sommer am Oberlehen verbringen wir nur noch wenige Nachmittage gemeinsam an unserem Platz. Peter macht sich in seinem Schulheft Notizen. Manchmal schreibt Hartmut etwas in Peters Heft. Ich weiß nicht, was beide aufschreiben. Peter bewahrt es in seiner Schultasche auf. Er nimmt es täglich mit in die Schule.
In der Schule freue ich mich jeden Tag darüber, meinen Freund Peter und neuerdings auch Hartmut während der Pausen zu treffen. Als Kind vom Oberlehen geht es mir in der Grundschule und der Hauptschule schlecht. Heimkinder sind was besonderes. Sie sind etwas schlechtes. Mitschüler und manche Lehrer wollen mit Heimkindern nichts zu tun haben. Ich habe oft ein schlechtes Gewissen, weil glaube etwas falsch gemacht zu haben. Nach Jahren habe ich das Gefühl, dass die Mitschüler mit Recht denken, dass wir Heimkinder schlecht sind. Ich glaube daran, denn genau dieses Los habe ich gezogen. Deshalb freue ich mich über Peter in der Schulpause, denn auch das hat er mir erklärt: „Die Mitschüler sind von ihren Eltern vor mir und den anderen Kindern “aus dem Heim da oben” gewarnt. Wir sind deren Gesprächsstoff, weil wir fremde Kinder sind, die nicht bei Eltern leben. Das muss Gründe haben und das ist Grund genug, uns aus dem Weg zu gehen. Ich spüre das jeden Tag.“
Auf dem Schulhof habe ich keine Streitereien und Auseinandersetzungen mit Mitschülern oder älteren Kindern. Ich will in Ruhe gelassen werden. Trotzdem werde ich misstrauisch von Lehrern und Schülern beobachtet. Ich habe das Gefühl, dass alles, was ich sage, von mir erst bewiesen werden muss, denn es gilt zunächst als gelogen.
23. Idylle
Samstagabends sitzt Hennings immer auf der linken Seite im Aufenthaltsraum. Er sitzt auf der dunkelbraunen Holzbank. Dort liegen rote und grüne Sitzpolster mit grünen Fransen. Es ist der Platz neben der weißen Milchglastür, die in den Speisesaal führt. Dort nähert sich Hennings den jungen Mädchen. Peter beobachtet den Mann sehr genau dabei.
Rechts und links von ihm sitzen Heimbewohnerinnen. Hennings legt, während im Fernsehen die Hitparade seit dreißig Minuten läuft, seinen schweren Arm auf die Schultern eines Mädchens. Die Mädchen, darunter auch Sofia, lassen es zu. Hennings rückt sehr dicht an sie heran. Peter fixiert Hennings, starrt ihm gehässig in die Augen. Das merkt Hennings bald, denn Peters Blick richtet sich, anstatt zum Fernsehgerät direkt auf Hennings. Peter sendet Hennings mit seinem hasserfülltem Blick giftige Pfeilspitzen.
In unserem Versteck sagt Peter:
„Du kannst einen Menschen mit Blicken töten. Büchtler ist darin sehr geübt. Ihm habe ich das abgeschaut. Du musst den gehassten Menschen mit deinen Augen fixieren und dich voll darauf konzentrieren allen Hass, den du in dir spürst, durch die Luft auf diesen Menschen zu richten.“
Peter ist in die dreizehnjährige Sofia verliebt. Er beobachtet sie bei Frühstück, Mittag- und Abendessen im Speisesaal. Beim Hausaufgabenmachen verliert er sie nicht aus den Augen. Abends im Aufenthaltsraum, vor dem Fernsehgerät, wünscht er sich, dass Sofia sich in seiner Nähe nieder lässt. Das tut sie nicht. Stattdessen setzt sie sich immer auf die Holzbank, nahe der Speiseraumtür, als habe Hennings das befohlen.
Zwischen Peter und Hennings kommt es mehr und mehr zu gehässigen Blickkontakten. Nach Peters Meinung vergreift sich Hennings an den jungen Mädchen. Ich weiß nicht, wie sich Hennings an den Mädchen vergreift. Ich sehe, dass er dicht neben ihnen sitzt und seinen Arm auf deren Schultern legt und dass sie manchmal abends, wenn wir nicht fernsehen dürfen, bei Hennings in der Wohnung vor dessen Fernseher sitzen oder er sie samstagnachmittags in seinem Opel Rekord mit nimmt.
Peter kann nicht sagen, wie Hennings sich an den Mädchen vergreift. Er spürt es. Hennings überschreitet bei Sofia Grenzen. Wir spüren, wenn Erwachsene Grenzen überschreiten. Auch wenn ich und Peter keine Opfer der Grenzüberschreitungen Hellings in der Weise werden, wie Sofia, spüren wir doch, dass Hennings Grenzen überschreitet. Im Oberlehen leben wir so dicht aufeinander, dass wir Stimmungen, die wegen dessen Grenzüberschreitungen entstehen, deutlich spüren. Wir sind Gewaltopfer, spüren aber neben unseren Schmerzen noch etwas: Wenn beide uns schlagen, tun sie uns etwas an, wovon kein Außenstehender etwas wissen darf.
Peter sagt in unserem Versteck im Wald:
„Die Gewaltausbrüche von Hennings und Büchtler sind deshalb für uns so heftig spürbar, weil die beiden sich sehr bemühen, ihre Gewalttaten nach außen hin zu vertuschen. Erst deshalb merke ich, dass deren Gewalt gegen mich nicht alltäglich ist, wie das tägliche Gebet, das Hennings vor dem Abendbrot spricht. Sondern es scheint etwas zu sein, das die beiden Männer machen, aber wohl eigentlich nicht machen sollten oder gar nicht machen dürfen. Warum sonst versuchen sie, ihre brutalen Gewalttaten gegen uns zu verheimlichen? Der Besuch aus dem Jugendamt darf davon nichts merken.“
Das beobachten wir und wir spüren, dass es den beiden Männern sehr unangenehm wäre, würde ein Gast merken, dass wir regelmäßig geprügelt werden. Doch wir wissen nicht recht, wie wir auf deren Grenzüberschreitungen und Gewalt reagieren könnten, um die Schläge gegen uns zu beenden. Peter erzählt eines Tages seinem Vormund, der zusammen mit einem Mitarbeiter des Jugendamtes zu Besuch kommt, dass ihn Hennings verprügelt hat, weil er Hennings „fettes Schwein“ genannt hat. Der Vormund erklärt, dass Kinder Erwachsene auch nicht „Schwein“ zu nennen haben und dass deshalb die Schläge des Heimleiters berechtigt sind. Der Vormund sagt, dass er nicht gekommen ist, um sich solchen Mist anzuhören, sondern er würde viel lieber Tischtennis spielen. Also spielen wir mit Peters Vormund den ganzen Nachmittag Tischtennis, bis ihn Hennings wieder zum Bahnhof bringt. Peter weiß, dass es keinen Sinn hat, dem Vormund oder anderen etwas von der Gewalt der beiden Männer vor zu jammern. Unser Leben am Oberlehen ist nichts besonderes, es ist normal. Es ist so, wie die Zeit ist. Für uns im Oberlehen heißt das, ganz im Sinne des Satzes: „A gscheide Watschn hat noch niemandem gschadet!“, ist unser Leben alltäglich. Es ist alltäglich, zu verheimlichen, das wir geschlagen werden. Wird doch einmal darüber doch gesprochen, dann sagt der Vormund halt, das sei ganz normal und Peter sei selbst schuld, wenn er einen Erwachsenen so provoziert. Peter meint:
„Mein Vormund weiß nicht, dass Hennings wirklich ein Schwein ist. Ich kann ihm das auch nicht gut erklären, vor allem nicht beweisen.“
Weil Peter jeden Samstagabend im Aufenthaltsraum mit ansehen muss, dass Hennings seinen Arm um die Schulter von Sofia und anderer Mädchen legt, steigt seine Wut auf den Mann. Peter beschimpft Hennings. Er nennt ihn ein “perverses Schwein”. Peter ist sehr eifersüchtig, später wütend und er fühlt sich ohnmächtig gegenüber der Macht Hellings. Seine Ohnmacht sagt ihm, dass Hennings immer der Sieger ist, denn er verfügt über die Macht des Stärkeren.
Eines Abends kommt Hennings wütend in unser Zimmer. Peter muss ihn wieder provoziert haben, ich weiß nicht wie. Hennings reißt die Zimmertür auf und brüllt Peter, der wie wir schon im Bett liegt, an:
“Da ziehste den Kürzeren du Schlappschwanz!”
Er knallt die Türe zu und ist weg. Solche Sätze von Hennings gehören zu dessen Lieblingssätzen. Doch so aufgebracht, wie Hennings in unser Zimmer stürzt, habe ich ihn noch nie gesehen.
Peter weiß, dass er keine Chance hat. Er ist sich nicht völlig sicher, ob das, was Hennings tut, überhaupt Unrecht ist. Trotzdem versucht er auf verzweifelte Weise, diesen Mann zu stellen. Peter versucht das Unmögliche. Er will den Machtmissbrauch dieses Menschen nachweisen. Weil er das nicht schafft und nach dem Besuch seines Vormunds fast verzweifelt, stürzt er unvermittelt in Hellings Wohnzimmer, wo Sofia und andere Mädchen vor dem Fernseher liegen. Er schreit Hennings ins Gesicht:
„Du perverses Arschloch!“
Wie sollen Kinder, die in der schönsten Idylle leben, beweisen, dass sie von zwei Männern sehr schlecht behandelt werden? Nicht zuletzt tut Hennings einiges dafür, dass unsere Lebenssituation am Obersalzberg normal, sogar idyllisch aussieht. Mein Oberlehen ist ein schönes, friedliches Bild von zwei ländlichen Häusern mit Pferdeschuppen und Tiergehege in traumhafter Berglandschaft. Wer soll da schon erkennen, dass Hennings und Büchtler ihre Verantwortung, die sie für Kinder übernommen haben, einfach ignorieren, vielleicht sogar missbrauchen? Ich halte das Oberlehen für mein normales zu Hause, weil ich nichts anderes kenne. Ich lebe meine Kindheit in diesen beiden Häusern. Woher soll ein Kind, das nichts anderes kennt, wissen, dass das Reden und Tun dieser beiden Männer auch anders, vielleicht vernünftiger sein könnte? Woher sollen Kinder, die mit schlagenden erwachsenen Männer zusammenleben, wissen, dass das nicht völlig normal ist? Selbst Peter ist sich jahrelang nicht klar darüber, dass der gewalttätige Stil von Hennings und Büchtler unangemessen ist. Peter hat keine anderen Erfahrungen. Er kennt das Leben bei einem schlagenden Mann vom Leben bei seinem Vater.
Ich sehe begeistertes Lächeln auf den Lippen der Mitarbeiter aus den Jugendämtern. Auch Hennings und Büchtler lächeln, wenn sie die Besucher durchs Oberlehen führen. Kinder leben hier in vollkommener Idylle. Auf der Bergwiese hinter dem Nebenhaus hält Hennings in einem Gehege junge Rehe. Im Schuppen am Oberlehen steht ein Pony. Ich glaube die meisten Erwachsenen, die das Oberlehen besuchen, denken, dass für Kinder, die hier leben dürfen, Natur und Idylle völlig ausreichen, um eine gute Entwicklung zu machen. Für erwachsene Besucher liegt es sehr nahe, zu denken, dass in so schöner, gesunder Umgebung auch die verantwortlichen Männer gut zu uns sind.
24. Klopapier
Freitagabend nach dem Abendessen, die Haushaltsdienste sind verteilt, sagt Peter zu mir:
“Sofia hat mir gestern erzählt, dass Hennings jeden Freitag, wenn alle duschen müssen, im Waschraum bei den Mädchen bleibt. Er steht da und sieht ihnen beim Duschen zu.”
Ich nicke, aber ich bin nicht überrascht, denn ich bin so naiv, dass ich nicht erkenne, was daran schlimm sein soll. Das erklärt Peter:
„Endlich verstehe ich, warum Hennings die Erzieherinnen jeden Freitagabend frühzeitig nach Hause schickt. Die stören ihn nur.“
Ich verstehe immer noch nicht, was Peter so schlimm findet.
„Wir sollten nachsehen, ob er jetzt drüben im Mädchenwaschraum steht. Wir brauchen aber einen guten Grund, weswegen wir da rein marschieren”
“Meinst du das ernst?”
Peter sitzt auf seinem Stockbett und blättert in einem Comicheftchen. Ich stehe in der Ecke unseres Zimmers und beuge mich über das Waschbecken. Ich putze meine Zähne. Meine Zahnbürste nehme ich aus dem Mund und blubbere, so dass der weiße Schaum ins Waschbecken und ein bisschen daneben tropft. Während ich den Schaum ins Becken spucke, sage ich:
“Wir haben doch diese Woche Klopapierdienst. Wir könnten einfach rüber latschen, im ersten Stock die Mädchenduschraumtür aufreißen und dann ganz erschreckt tun, wenn wir dort Hennings und die nackten Mädchen sehen!“
Ich finde meine Idee super und spucke Schaum in das Waschbecken.
„Wir könnten sagen, dass wir völlig vergessen haben, dass gerade Duschzeit ist. Wir sagen, dass wir auf dem Weg sind, um von dort das Klopapier zu holen.“
Ich sehe zu Peter hinauf:
„Auf den Dachboden zum Klopapierlager kommen wir nur, wenn wir durch den Mädchenwaschraum gehen! Das wäre ein guter Grund für unser Auftauchen!“
Ich wende mich zurück zum Waschbecken und schrubbe mit der Zahnbürste weiter in meinem Mund herum. Ich finde meine Worte sehr mutig. Ob ich wirklich tun will, was ich gerade gesagt habe, darüber habe ich noch nicht nachgedacht.
Meine Worte haben Wirkung. Peter ist begeistert. Ich glaube das liegt daran, dass meine Idee so klar ist. Peter wirft sein Comicheftchen aufs Bett. In einem Satz springt er vom Stockbett herunter. Die Holzdielen knallen und knarren unter seinem Gewicht. Aufgeregt steht er dicht neben mir.
“Würdest du das echt machen?”
Ich halte meine Zahnbürste unter laufendes Wasser. Ich komme mir ziemlich mutig vor, habe mich aber, wegen Peters überraschendem Sprung aus dem Stockbett, am Schaum der Zahncreme verschluckt. Ich huste, beuge mich unter den Wasserhahn, um mit der Hand Wasser in den Mund zu schaufeln. Dicht vor meinen Augen sehe ich am Waschbeckenrand die bunte Zahncremetube. Auf der steht: “Strahler 80! Strahlerküsse schmecken besser!” Ich lese das Wort “Strahlerküsse”. Das bringt mich auf den Gedanken, dass ich noch nie ein Mädchen geküsst habe, geschweige denn eines nackt gesehen habe. Erst deshalb wird mir die Vorstellung, dass Hennings alle Mädchen am Oberlehen jeden Freitagabend nackt im Duschraum sieht, richtig klar.
Ich habe nicht den Gedanken, dass Hennings deshalb etwas unrechtes tut. Die Idee, dass Hennings in die Intimsphäre der Heimkinder eindringt, so Grenzen überschreitet und eigentlich eine Erzieherin die Mädchen beim Duschen beaufsichtigen sollte, habe ich nicht. So denke ich nicht. Für mich ist in diesem Moment einzig der Gedanke reizvoll, die Mädchen des Haupthauses alle nackt unter der Dusche zu sehen. Hennings dabei zu überraschen ist nicht mein Ziel. Das ist Peters Interesse. An diesem Abend will er Hennings endgültig nachweisen, dass er Grenzen überschreitet. Ich spucke den Schaum ins Becken. Die Tube mit den Strahlerküssen halte ich unter laufendes Wasser, so dass die Sterne darauf glänzen.
Peter und ich sind aufgeregt und angespannt. Mein Herz klopft viel schneller als sonst. Meine Anspannung kann ich nur ertragen, weil ich mir vorstelle, dass Peter und ich Schauspieler in einer amerikanischen Krimiserie sind. Ich stelle mir vor, dass alles was wir tun, schon lange geprobt ist und deshalb reine Routine. Die Vorstellung beruhigt mich. Es ist eine Methode, die ich auch in der Schule anwende, wenn mich der Lehrer nach meinen Hausaufgaben fragt, die ich im Oberlehen vergessen habe.
Heute denke ich, dass ich ein Schauspieler aus der amerikanischen Fernsehserie Kojak bin. Ich denke, dass Peter Kojak, der Kriminalkommissar, ist. Kojak sehe ich in unserem Zimmer auf und ab laufen. Er unterhält sich mit mir über seinen neusten Fall. Was wir gerade miteinander besprechen, wie wir Hennings im Mädchenduschraum überraschen wollen, das kennen wir beide auswendig, denn Peter und ich sind gute Schauspieler, wir haben unser Drehbuch genau studiert und auswendig gelernt. Alles haben wir schon oft geprobt. Die sehr spannende Szene ist deshalb nicht mehr so aufregend. Ich sehe Peter an:
„Ja das ist mein Ernst!“
Der rechte Daumen von Kojak steckt lässig in Peters Gürtel. Er kommt zu mir ans Waschbecken. Mit der linken Hand nimmt er meinen Zahnputzbecher. Den hält er unter Leitungswasser und lässt ihn voll laufen. Wie der Inspektor seinem Assistenten, reicht Kojak mir den Plastikbecher der, statt mit Kaffee mit Wasser gefüllt ist. Er schaut mich sehr ernst an.
„Also dann, lass uns überlegen, wie wir vorgehen!“
Wir beide sprechen über unser aufregendes Vorhaben. Dabei bleiben wir ganz ruhig. Das ist nur möglich, weil ich denke, dass wir Schauspieler sind und die Szene lange geprobt ist, ich kenne alles. Es ist klar, wie es weiter zu gehen hat. Das Drehbuch steht fest. Ich nehme den Wasserbecher aus Peters Hand. Wir sehen uns an. Ich glaube, uns beiden ist in dieser Situation klar, dass wir nichts zu verlieren haben. Die nackten Mädchen unter der Dusche interessieren uns beide. Dabei Hennings zu ertappen wäre zumindest peinlich für den. Auf den ersten Blick ist meine Idee gut.
Wir laufen vorbei an der riesigen Eiche hinüber ins Haupthaus. Je näher wir dem Mädchenwaschraum im ersten Stockwerk kommen, desto langsamer werden unsere anfangs munteren Schritte. Vor der Waschraumtür spüre ich wieder dieses Zittern meines ganzen Körpers, das mich auch in der Nacht überfallen hatte, als ich mit Peter an der Kellertreppe stand. Der lange Gang mit den vielen Türen in die Zimmer der Mädchen ist leer. Aus dem Waschraum hören wir die Duschen plätschern.
Ich bringe keinen Ton heraus. Mein Körper zittert. Ich denke an nichts. Von Mut keine Spur. Es ist Angst, die jetzt meinen Kopf im Griff hat, sie macht Denken unmöglich. Kojak taucht in meinem Kopf nicht mehr auf. Der Film ist abgelaufen. Was kommt, steht nicht mehr im Drehbuch. Ich kann meine Beruhigungsmethode nicht einsetzen. Wie festgenagelt stehe ich vor der Türe. Ich zittere wie eine elektrische Zahnbürste. Ich merke, dass ich ein ängstlicher Waschlappen bin. Peter kennt das von mir. Deshalb übernimmt er sofort das Kommando, er flüstert:
“Ich zähle bis drei, dann drück ich die Klinke runter und wir rennen einfach los. Wenn Hennings drin ist, werden wir ihn schon sehen, wie wir es besprochen haben.“
Peter beginnt leise zu zählen. Seine rechte Hand liegt auf der Türklinke.
“Eins .. zwei .. drei!”
Peter drückt fest auf die Klinke. Ich höre einen dumpfen Schlag. Peter knallt mit dem Kopf gegen die Tür. Sie ist verschlossen. Jetzt fällt mir Kojak wieder ein. Der hätte an diese Möglichkeit gedacht. Ein Gangster wie Hennings trifft während seiner Taten Vorsichtsmaßnahmen, er sichert sich davor ab, ertappt zu werden. Eine naheliegende Maßnahme, um im Waschraum mit den Mädchen nicht überrascht zu werden, ist sie einfach von innen abzusperren. Peter hält seinen Kopf und die Schulter. Sein Gesicht ist vom Schmerz verzerrt.
Hennings ruft aus dem verschlossenen Duschraum:
“Was ist los, wer ist da, was gibt es da draußen?”
Peter flüstert:
„Immerhin wissen wir jetzt, dass Hennings da drin ist.“
Ich sage nichts. Nach kurzem Schweigen brüllt Peter:
“Äh, nichts besonderes! Wir wollten nur Klopapier holen! Wir haben Klopapierdienst!”
Hennings von innen:
“Haut mal lieber ganz schnell ab ihr Penner, sonst mache ich euch Beine!”
Peter flüstert:
“Komm, wir verschwinden!“
25. Hirschgeweihe
Mit dem Widerstand beginnen wir in der Nacht. Bei eisiger Kälte und Dunkelheit marschieren wir drei, Peter, Hartmut und ich, mit Taschenlampen bewaffnet los. Peitschender Wind jagt feine Schneeflocken über die steile Wiese hinter dem Oberlehen. Die Sicht ist trotz des hellen Schnees sehr schlecht. Wir stapfen die verschneite Wiese hinauf. In Sichtweite der beiden Häuser, dem Oberlehen, können wir unsere Taschenlampen noch nicht einsetzen. Hennings oder Büchtler würden uns auf dem verschneiten Hang wegen der Taschenlampenkegel entdecken.
Endlich erreichen wir den Waldrand. Im Wald schaltet Peter seine Lampe ein. Meine und Hartmuts Lampen, sagt Peter, bleiben ausgeschaltet, wir brauchen sie später noch. Weil wir einen langen Weg vor uns haben, müssen wir die Batterien schonen. Hartmut stapft hinter mir her. Über meiner Schulter trage ich ein Seil. Das ist sehr schwer. Schon nach einer knappen halben Stunde Fußmarsch, durch den hohen Schnee spüre ich Schmerzen von meinen Schulterblättern. Ich werfe das Seil auf die andere Schulter. Auch von der spüre ich nach kurzer Zeit Schmerzen. In knappen Abständen wechsle ich deshalb das Seil von einer auf die andere Schulter.
Seil und Taschenlampen haben wir gestohlen. Jeder von uns erledigte einen Diebstahl. Unser Diebesgut hatten wir bereits vor Monaten, als es noch Sommer gewesen war, im Schuppen versteckt. Während der warmen Jahreszeit bleibt der stets unverschlossen, weil im Sommer das Pony von Hennings dort wohnt. Im Winter aber, ist der Schuppen abgesperrt. Das Pony lebt dann auf einem Pferdehof.
Kurz vor Mitternacht trafen wir uns in der eisigen Kälte hinter dem Schuppen. Peter hat den Schlüssel aus dem Schlüsselkasten geklaut. Wie er das geschafft hat ist mir ein Rätsel. Der Schlüsselkasten hängt im Korridor in Hellings Wohnung. Peter öffnete den Schuppen, ging hinein und kam nach wenigen Sekunden mit Seil und Taschenlampen wieder heraus.
Der eisige Ostwind peitscht heute heftig. Meine Ohren schmerzen von der Kälte. Das heftige, kalte Peitschen lässt oben im Wald, im Schutz der Bäume, ein bisschen nach. Darüber bin ich froh. Ich hasse die eisige Kälte, die der Winter am Obersalzberg bringt. Peter kennt den Weg genau. Um Energie zu sparen, schaltet er immer wieder seine Lampe aus. Er schaltet sie wieder ein, um Löcher und Vertiefungen im Waldboden rechtzeitig genauer zu sehen. Der Fußmarsch durch den tiefen Schnee ist beschwerlich. Peter hat gestern Abend erklärt, dass wir für den Hinweg mindestens zwei Stunden brauchen. Für den Rückweg rechnet er noch länger. Hartmut und ich lassen uns von Peters Warnungen nicht abschrecken. Wir wollen unbedingt dabei sein.
Den Zugang in den Stollen hat Peter ausgekundschaftet. Er ist verfallen, deshalb könne man ihn kaum finden. Es ginge etwa drei bis vier Meter hinunter in die Tiefe. Unten könnten wir stehen. Vor der Dunkelheit im verfallenen Stollen brauchten wir keine Angst zu haben. Wir haben ja die Taschenlampen. Die alte Kiste im Stollen sei schon total vermodert. Deshalb wäre es überhaupt kein Problem, sie aufzubrechen. Es wäre eindeutig eine alte Militärkiste. Sie trüge eingebrannte Naziaufschriften, Hakenkreuze und solche Dinge. Wahrscheinlich ist es ein übriggebliebener Nazistollen. Der Berg, das erklärt uns Peter, wäre durchzogen von solchen Stollen und Bunkern.
Ich will mich auf Peters Plan einlassen. Von der Herkunft des Stollens und der Kiste will ich aber nichts wissen. Der Inhalt der Kiste interessiert mich nicht. Auch für den Grund, warum wir die Kiste oder dessen Inhalt holen wollen, interessiere ich mich nicht. Ich will nur dabei sein, wenn Peter seinen Plan ausführt. Der Anstieg ist noch beschwerlicher, als es Peter vorher ausgemalt hatte. Nach einer knappen Stunde durch tiefen Schnee beginnt Hartmut tief und laut zu atmen. Nach einer weiteren halben Stunde röchelt er. Peter schlägt eine kurze Pause vor. Aber Hartmut lehnt ab.
“Kein Problem für mich, die frische Luft tut gut und für mein verletztes Knie ist das Marschieren das beste Training.”
Mir fällt wieder ein, warum Hartmut sein Knie mit einem Mullverband umwickelt hat.
Nachmittags hat ihn eine Erzieherin in unserem Zimmer verarztet. Für Hartmuts Verletzung ist Büchtler verantwortlich. Hartmut fliegt zuerst durch die dünne Milchglasscheibe zwischen Speisesaal und Kellerabgang. Dort stolpert er und stürzt dann durch die Eingangstür auf den Kies im Hof. Größere Kinder tragen ihn später hinüber in unser Zimmer. Die Schnittwunden in Hartmuts Gesicht sehen schlimm aus. Als das viele Blut aber abgetupft ist, sieht alles halb so wild aus.
Peter übersieht einen Ast auf dem verschneiten Waldboden. Er stolpert und stürzt in den Schnee. Sofort steht er wieder auf. Er schaltet seine Taschenlampe ein. Jetzt lässt er sie in Dauerbetrieb. Schneefall und eisiger Wind sorgen trotz Taschenlampe für schlechte Sicht. Endlich erreichen wir die Waldlichtung. Peter leuchtet sie ab. Er flüstert:
“Hier irgendwo muss es sein. Es hat viel geschneit in den letzten Tagen. Die Gegend sieht bei Nacht ganz anders aus.”
“Bist du sicher, dass wir richtig sind?”, fragt Hartmut. Sein Ton verrät die Anstrengung des steilen Anstiegs, der hinter uns liegt. Hartmut und ich fürchten, dass wir immer noch nicht am Ziel angekommen sind. Aber Peter nickt, denn er ist sich sicher. Er richtet den Leuchtkegel seiner Taschenlampe nach rechts. Dort liegen dicke, verschneite Baumstämme.
“Das sind die Stämme. Daneben muss das Loch zum Stollen sein.”
Langsam klettert er über die verschneiten Stämme. Dahinter arbeitet er sich sitzend vorwärts durch den tiefen Pulverschnee. Hartmut und ich folgen. Im Schnee vor uns dreht Peter den Kopf zu uns und sagt lachend:
“Wir sind richtig!”
Jetzt spüre ich ängstliches Zittern. Trotzdem folge ich Peter sofort. Ich sitze hinter ihm im Schnee und arbeite mich wie er vorwärts. Hartmut folgt hinter mir. Peter rutscht langsam in ein Loch im Schnee und verschwindet. Ich leuchte mit meiner Lampe hinter ihm her. Der Kegel der Taschenlampe zittert wie meine Hand. Ich sehe Peter nicht mehr. Ich höre aber, wie Stiefel auf matschigen, nassen Boden aufschlagen. Er ruft aus dem Loch zu mir hoch:
“Keine Angst, wir sind goldrichtig hier! Das Loch ist nicht tief. Nur langsam runter rutschen, dann habt ihr gleich wieder festen Boden unter den Füßen. Vergesst nicht das Seil oben am Baumstamm zu befestigen, damit wir leichter wieder raus kommen!”
Ich schiebe mich in das Loch und verliere den Boden unter meinen Füßen. Dann lande ich auf matschigem Boden. Unbeabsichtigt gehe ich in die Knie, die mich wegen meines Zitterns nicht halten wollen. Sofort stehe ich wieder auf. Ich springe zur Seite zu Peter. Hartmut kommt zusammen mit einem Schneehaufen und dem Seilende von oben herunter gerutscht.
Unsere hellen Taschenlampen sind jetzt nötig. Peter geht voraus. Der Stollen ist hoch. Wir laufen ohne uns zu bücken. Rechts und links schimmern die Wände grünlich. Es riecht nach Moder und Schimmel, aber es ist viel wärmer als draußen. Ich beginne zu schwitzen. “Das ist die erste Kammer”, sagt Peter. Er deutet mit seinem Lampenkegel auf einen halb eingebrochenen Zugang. Hartmut und ich leuchten mit unseren Lampen hinein. Auf dem Boden liegen heruntergefallene Steine. Die Wände schimmern grün.
Peter marschiert schnell durch den matschigen Stollen. Er wird schneller und schneller. Ich habe Mühe ihm zu folgen. Ich sehe Peters zackige Schritte vor mir. Am Boden sehe ich den braunen Matsch, den Peters Schuhe verdrängen. Feuchter brauner Schlamm spritzt rechts und links an die moderigen Mauern.
Plötzlich erkenne ich den zackigen Schritt eines Soldaten vor mir. Ist das noch Peter? Ich glaube, er trägt so eine alte schwarze Skihose, wie man sie vor Jahren beim Skifahren getragen hat. Die Hose ist ihm viel zu weit. Deshalb sieht sie aus, wie eine ausgebeulte Uniformhose. Hinter mir höre ich die Schritte von Hartmut. Die Schritte von uns Dreien durch den vermoderten Stollen höre ich rhythmisch. Ich glaube, irgendetwas stimmt da nicht.
Plötzlich marschieren wir drei im Gleichschritt durch den matschigen Stollen. Nur der Matsch, der unter unseren Stiefeln weg spritzt und an die Wände klatscht, sorgt für etwas Unruhe im Takt. Nach wenigen Metern ist der Boden nicht mehr matschig. Er ist jetzt steinhart, dunkel und trocken. Statt klatschendem Matsch höre ich jetzt den Hall unserer Schritte durch den engen, langen Gang.
Peter muss den Stollen gut kennen, denn er läuft zielstrebig vorne weg. Es kommen viele Gänge, die rechts und links abzweigen. Einmal geht er links, dann wieder rechts, dann gerade aus. Mehrmals sagt er: “Alles klar Leute, gleich sind wir am Ziel.” Von hinten hallt Hartmuts Stimme durch den Stollen: “Ich wusste nicht, dass dieser Tunnel so lang ist. Die Leute die das gebaut haben, müssen viel geschuftet haben.” “Da sind wir!”, ruft Peter laut. Seine Stimme hallt durch den Stollen.
Durch einen verfallenen Zugang in der Mauer betreten wir eine Kammer. Ich folge Peter, drehe mich um. Hinter mir sehe ich Hartmut. Auch er drückt sich durch den engen Spalt in der Wand. Die Kammer ist groß, leer und feucht. Die Mauern sind voll von Grünspan. Von der Decke tropft Wasser. Peter leuchtet mit seiner Lampe nach rechts. “Da ist sie, wie versprochen!”
In der Ecke steht eine dunkle Holzkiste. Ihr Deckel ist aufgebrochen. Peter geht zur Kiste. Ich bleibe regungslos bei Hartmut am engen Spalt in der Wand stehen. Peter nimmt etwas aus der Kiste. Es ist etwas Großes. Er versteckt es unter seinem Mantel. Jetzt hallen Peters Schritte durch den Raum. Er kommt schnell zu uns zurück. “Ok, alles klar, ich hab’s. Gehen wir wieder.” Wir verlassen die Kammer durch den engen Spalt.
Auf dem Rückweg werden unsere Schritte durch den engen, langen Korridor sehr schnell. Peter läuft vor mir her. Von hinten erkenne ich, dass Peter in seiner rechten Hand nicht mehr die Taschenlampe hält. Im Takt seines schnellen Schrittes schwenkt Peter einen Hut hin und her. Ich glaube, es ist eine Schirmmütze. Jetzt erkenne ich auch, dass seine Skihose gar nicht schwarz ist. Sie ist grau. Peters Hose ist nicht zu groß, sondern weit, aber sie passt ihm genau. Ich glaube, es ist tatsächlich eine Militärhose.
Auch ich habe plötzlich keine Taschenlampe mehr in meiner rechten Hand. Wie Peter schwenke ich, im Takt meines schnellen Schrittes, eine Schirmmütze. Die Person hinter mir kann ich nicht erkennen. Die schnellen Schritte von Peter erlauben mir nicht, mich umzusehen. An der niedrigen Decke des schmalen Korridors hängen grelle Neonröhren. Deshalb haben wir keine Taschenlampen mehr! In der grellen Neonbeleuchtung erkenne ich hin und wieder die Umrisse von Männern, die uns entgegenkommen. Sie sind alle militärisch gekleidet, genauso wie Peter und ich. Im Vorbeigehen grüßen sie uns. Sie winkeln zackig ihren rechten Arm an, so dass ich kurz deren Handflächen neben den Umrissen ihrer Gesichter sehe. Peters Marschgeschwindigkeit kann ich nur mit großer Mühe einhalten. Die Neonlampen an der Decke fliegen schnell über meinem Kopf hinweg.
Abrupt bleibt Peter plötzlich stehen. Vor ihm steht ein großer Mann. Mit der linken zieht Peter ein Stück weißes Papier aus seiner Hosentasche. Das hält er dem Mann unter die Schirmmütze. Der Mann nickt, und öffnet eine graue Stahltür. Es ist der Ausgang. Von dort fällt helles, blendendes Tageslicht herein. Im grellen Sonnenschein überquere ich dicht hinter Peter einen gepflasterten Parkplatz. Der Parkplatz steht voll mit bunten, ausländischen Kleinwagen mit ausländischen Nummernschildern. Peter besteigt einen bereitstehenden dunkelgrünen Jeep. Es ist das einzige Militärfahrzeug zwischen den bunten Wagen. Ich setze mich neben ihn auf den Beifahrersitz. Jetzt schaue ich nach hinten. Auf dem Rücksitz erkenne ich Hartmut. Auch Hartmut trägt eine Schirmmütze.
Ruckartig fährt Peter los. Peters Anfahrt drückt mich in den Beifahrersitz. Er lenkt den Jeep über den gepflasterten Parkplatz, vorbei an grauen Torbögen. Jetzt erkenne ich die Straße. Wir fahren vom Parkplatz vor dem General – Walker – Hotel nach unten.
Peter lenkt den Jeep an mehreren kleinen Kontrollhüttchen vorbei. An manchen Kontrollhüttchen bleibt Peter stehen und zeigt sein Papier vor. Wenn sich die Schlagbäume anheben, fährt Peter ruckartig an. Wir fahren die sehr steile Straße am Obersalzberg hinunter. Rechts und links sehe ich dichten Nadelwald. Die Straße schlängelt sich kurvenreich hinab. In einer steilen Kurve reißt Peter plötzlich das Lenkrad nach links. Hartmut hält sich hinten an einer Stahlstange des Wagens fest. Auch ich greife eine Stahlstange über der Windschutzscheibe, damit ich nicht aus dem Jeep geschleudert werde. Ich weiß nicht, warum Peter so hastig fährt. Wir erreichen eine helle, enge Schotterpiste. Peter gibt, obwohl der Weg steil hinunter führt, kräftig Gas. Mich drückt es noch mal in den Beifahrersitz. Jetzt erkenne ich den Weg. Wir fahren auf der Rodelbahn hinunter. Eigentlich dürfen auf ihr keine Autos fahren. Ich kenne jede Kurve von vielen Schlittenfahrten auf der Bahn. Seit vielen Jahren fahre ich diese Bahn im Winter mit dem Schlitten hinunter. Jeden Samstag laufen wir auf der Rodelbahn runter nach Berchtesgaden und gehen ins Hallenbad. Jetzt steuert Peter den Jeep durch die Teufelskurve, von der es mich auf meinem Schlitten regelmäßig hinaus trägt. Peter scheint es egal zu sein, dass man hier eigentlich nicht mit einem Auto fahren darf. Er lenkt den Jeep routiniert und geschickt durch die steilen Kurven.
Es ist bereits Sommer geworden. Auf der Rodelbahn liegt der helle Schotter, den ich von den Fußmärschen aus Hallenbad und Schule zurück hinauf ins Oberlehen kenne. Jetzt steuert Peter den Jeep scharf nach links auf einen anderen, schmalen Schotterweg. Wieder gibt er kräftig Gas. Der Motor heult laut auf.
Ich erkenne das Haupthaus des Oberlehens. Es liegt plötzlich im Dunklen. Die Morgendämmerung ist noch nicht eingetreten. Im Haupthaus brennt kein Licht, die Fenster sind dunkel. Aber aus dem Ponyschuppen schimmert Licht. Mist, denke ich in diesem Moment, wahrscheinlich hat Peter vergessen, das Licht auszuschalten, nachdem er Seil und Taschenlampen geholt hatte. Peter fährt mit hohem Tempo auf den Parkplatz vor dem Haupthaus. Scharf bremst er den Jeep ab. Der Jeep rollt noch, aber Hartmut springt hinten schon raus auf den Hof. Eilig rennt er zum Ponyschuppen. Er reißt die Tür auf und schaltet das Licht aus. Komisch, denke ich, warum ist die Tür nicht abgesperrt? Peter hatte sie doch wieder verschlossen.
Das ist jetzt unwichtig. Wir haben es eilig. Hartmut zerrt mich an meinem rechten Ärmel aus dem Jeep. Sofort folge ich Peter über den Kies rund um das Haupthaus. Abrupt bleibt Peter unter der alten Eiche im Innenhof zwischen den Häusern stehen. Kurz sieht er mir ins Gesicht. Er scheint über etwas nachzudenken. Jetzt packt er mich an meiner Schulter und schiebt mich vor sich. Ich soll also vorausgehen. Ich spüre seine und Hartmuts Hände auf meiner Schulter. Beide schieben mich vor sich her. Unsere Schritte knirschen im feinen Kies unter der Eiche. Ich will zur hölzernen Außentreppe gehen. Ich will, wie ich es gewohnt bin, hinauf in unser Zimmer gehen. Jetzt spüre ich Peters harten Griff an meiner Schulter, er ergreift nun auch meine rechte Hand. Er zieht mich vorbei an der riesigen Eiche in die falsche Richtung.
Vor Hellings Wohnungstür bleiben wir stehen. Ich öffne die Tür. Drinnen hängen von der Decke die Hirschgeweihe. Der Fußboden ist übersät von Fellen erlegter Tiere. Hartmut und Peter schieben mich über die Türschwelle in den Korridor. Jetzt höre ich hinter mir Peters stimme: “Du öffnest die zweite Türe, sie kommt gleich rechts.” Wir stehen bereits vor dieser Tür. Ich kenne sie gut. Es ist die Tür in Hellings Wohnzimmer. Peter schiebt mich dicht an diese Tür heran. Auch über ihr hängt ein riesiges Hirschgeweih. Ich stehe vor der Wohnzimmertür und rühre mich nicht. Ich will diese Türe nicht öffnen. Ich habe sie oft genug geöffnet, um mir von Hennings eine Bestrafung geben zu lassen. Weil ich Widerwillen spüre, die Wohnzimmertür zu öffnen, schaue ich nach oben und sehe über der Tür ein riesiges Hirschgeweih. Weil ich Zeit gewinnen möchte, um die Tür nicht gleich öffnen zu müssen, drehe ich mich um und frage Peter: “Ist das die Wohnung eines Jägers?” Peters Blick ist sehr ernst, er nickt, aber er antwortet nicht. Er weiß genau, dass ich mit dieser Frage nur Zeit schinde. Weil er mir aber keine Zeit mehr lassen will, legt er seine Hand auf die Türklinke. Fest drückt er sie hinunter. Peter schiebt mich langsam, aber bestimmt durch die sich öffnende Tür.
Plötzlich drückt mir Peter einen kalten, schweren Gegenstand in meine Hand. Der Gegenstand ist lang und schwarz. Ich versuche das schwere Ding hoch zu heben, es gelingt mir kaum. In einem großen, grünen Ohrensessel erkenne ich jetzt Hennings in einer Ecke seines Wohnzimmers. Neben ihm sitzt Büchtler auch in so einem großen Sessel. In der anderen Ecke des Zimmers läuft ein Fernsehapparat. Das Programm ist bereits beendet. Auf dem Boden liegen viele Felle von Tieren die Hennings auf der Jagd erlegte.
Zwischen den Fellen erkenne ich verschiedene Kindergesichter. Es sind die Gesichter junger Heimbewohnerinnen. Ich erkenne sie alle wieder. Auch Sofia ist dabei. Meine Arme und Hände zittern. Ich spüre diesen schweren, kalten Gegenstand in meiner Hand. Mit aller Mühe hebe ich das Ding hoch. Jetzt halte ich es vor meinen Kopf. Dabei zittere ich stark. Hinten im Zimmer erkenne ich Hennings und Büchtler. Dorthin halte ich das schwere Ding. Zwei Mal knallt es laut. Es ist das gleiche Geräusch, das ich in der Nacht an der Kellertreppe gehört hatte. Auch der Geruch, den ich jetzt rieche, ist derselbe. Es stinkt nach Schießpulver. Plötzlich spritzt rotes Blut durch das Zimmer. Ich glaube, es stammt von den erlegten Tieren. Der Fernseher flimmert noch. Die Sessel von Hennings und Büchtler sind rot. Zerfetzte Lappen und Tierköpfe liegen auf dem Boden. Hirschgeweihe spießen in der Wand. Erst jetzt schleudert mich die Detonation einige Meter zurück gegen die Wohnzimmerwand.
Von unten, von der Seite sehe ich das graue Sofa. Ich liege auf dem Fußboden. Ich liege auf dem Boden meines gemieteten Zimmers in der Hochsteinstraße. Ich liege auf dem grauen Teppichboden zwischen dem Sofa und dem niedrigen, dunkelbraunen Tisch. Von da sehe ich das Sofa und die runde Papierlampe an der Decke. Sie leuchtet. Der Aschenbecher liegt unter dem kleinen Tisch. Sein Inhalt verstreut auf mir und auf dem Sofa. Mein Trinkglas ist bis unter die Papierdeckenleuchte in die Mitte des Zimmers gerollt.
Langsam ziehe ich mich an dem schmalen Tischbein hoch. Die Tür hinaus auf den Balkon steht offen. Der Wecker auf dem Tisch zeigt halb zehn Uhr. Ich habe drei Stunden geschlafen. Es ist eine warme Julinacht in Berchtesgaden. Von draußen dröhnt Verkehrslärm. Die Wohnung an der Hochsteinstraße ist laut. Ich gehe verschlafen in die Küche. Im Bad plätschert es. Vermutlich duscht Herbert gerade. Der Kaffee steht seit Stunden auf der eingeschalteten Maschine. Ich gieße ihn in den Ausguss. Ich öffne das Küchenfenster. Abgestandener Kaffeegeruch zieht hinaus. Unten an der Hallenbad-Baustelle wird bei Flutlicht gearbeitet.
Ich erfrische mein verschlafenes Gesicht unter dem Küchenwasserhahn. Mein Glas fülle ich wieder mit Wasser. Ich gehe zurück ins Zimmer und schließe die Balkontür. Im Schlafzimmer setze ich mich an den Schreibtisch vor meine alte, braune Schreibmaschine. Ich lege Papier ein und beginne zu tippen.
26. Der Speicher
Im Oberlehen liege ich oben in meinem Stockbett. Ich höre Peters Stimme:
“Na du Penner, genug gerüsselt?”
Jetzt sehe ich unten im Stockbett Hartmut. Sein verletztes Knie lagert auf einem Hocker. Peter erhebt sich vom Stuhl. Er zieht sich sein Schlafanzughemd über. Hartmut schaut von unten zu mir hinauf. Er sagt:
“Das ist wirklich kaum zu glauben, du fragst uns etwas und schläfst dabei ein!”
Ich richte mich auf und stütze mich auf meine Ellenbogen.
“Was?”
Peter geht zum Waschbecken. Von dort höre ich ihn:
“Wir müssen jetzt das Licht ausschalten, sonst gibt es Ärger mit Hennings. Es ist schon Viertel nach neun.”
Er knipst das Licht über dem Waschbecken aus. Peter klettert in sein Bett und verkriecht sich unter der Decke.
“Du weißt nicht mehr, was du gefragt hast?”
Ich antworte nicht.
“Unglaublich”, flüstert Hartmut. “Stellt eine Frage, pennt ein, und hat nach dem Aufwachen vergessen, was er überhaupt gefragt hat!”
“Was habe ich denn gefragt, bevor ich eingeschlafen bin?”
Peter richtet sich in seinem Bett auf. Durch die Dunkelheit schaut er zu mir herüber:
“Du hast uns gefragt, wo wir mein Schreibheft am sichersten vor Hennings und Büchtler verstecken könnten.”
“Ach so? Daran kann ich mich nicht erinnern, wirklich überhaupt nicht! Ich muss schon geschlafen haben. Habt ihr überlegt, wo der beste Platz ist?”
“Wir haben es überlegt”, flüstert Hartmut hinauf zu mir, “wir werden es zwischen den Matratzen auf dem Speicher verstecken.”
“Wir wollen nur noch dort oben in das Heft hineinschreiben. Es ist zu gefährlich, das immer mit mir herum zu tragen.”
“Psst!”, zischt jetzt Hartmut.
Draußen auf der Holztreppe nähern sich schwere, langsame Schritte.
“Hennings macht seinen Rundgang, tun wir so als würden wir schon pennen,”
Leise knarrt die milchige Glastür. Im dunklen Türspalt erkenne ich die Umrisse von Hennings. Er wirft einen kurzen Blick herein. Er sieht, dass wir alle in unseren Betten liegen. Behäbig geht er über die Holzbretter vor unserem Zimmer weiter zur Eingangstür, in den Durchgangswaschraum. Nachdem wir die Eingangstür ins Schloss fallen hören flüstert Peter:
“Wir schreiben nur noch auf dem Dachboden in unserem Versteck in mein Heft. Wenn Hennings oder Büchtler mein Heft in meiner Schultasche finden, ist der Teufel los. Wir haben schon genügend über das Oberlehen aufgeschrieben, deshalb müssen wir mit dem Heft vorsichtig sein. Wir müssen dieses Heft gut aufbewahren, es kann uns vielleicht später noch gute Dienste erweisen. Der Speicher ist ein gutes Versteck.”
“Gute Nacht”, stöhnt Hartmut leise. Ich atme schon sehr tief.
27. Störenfriede
Es ist ein Tag im Sommer. Zunächst fängt er so normal an, wie jeder andere Tag. Morgens um sechs Uhr hämmert Büchtler laut gegen unsere Milchglastür. Er reißt sie auf und ruft:
“Raus aus den Kisten!”
Scheppernd lässt er die Tür wieder zu fallen. Der Vormittag in der Schule vergeht langweilig. Nachmittags im Oberlehen ist alles anders. Vor dem Hauptgebäude parken zwei fremde Autos. Die Kennzeichen kenne ich nicht. Hartmut, Peter und ich sitzen vor unseren Plastiktellern beim Mittagessen. Plötzlich kommt Büchtler zu uns an den Tisch.
“Peter und Hartmut! Um halb drei Uhr ist für euch Abfahrt. Eure Koffer sind schon gepackt. Die zwei Autos da draußen bringen euch in zwei andere Heime.”
Peter und Hartmut sagen nichts. Auch ich schweige. Büchtler verschwindet sofort. Er erwartet keine Fragen. Er will kein Gespräch. Die Sache ist klar. Das Vorgehen von Büchtler ist normal. Störenfriede werden in Überraschungsaktionen entfernt. Hennings und Büchtler stört irgendetwas an Hartmut und Peter derart, dass beide verschwinden müssen. Bei anderen Kindern, meist älteren Jugendlichen, habe ich mehrmals erlebt, dass sie plötzlich abgeholt wurden. “Erziehungsheim” war immer das Stichwort. Im Nachhinein hieß es, dass diese Kinder dorthin gebracht wurden, weil sie für das Oberlehen zu frech seien. Ich glaube, das waren immer Willküraktionen der beiden Männer. Diesmal betrifft so eine Aktion nicht irgendwelche anderen Kinder am Oberlehen. Minuten stochern wir schweigend mit unseren Gabeln im Essen auf unseren Plastiktellern. Sehr leise ergreift Peter das Wort.
“Irgendwie habe ich schon gestern Nachmittag geahnt, dass es unser letzter Nachmittag im Wald sein könnte. Wie spät ist es?”
Hartmut schaut auf seine Uhr.
“Viertel nach zwei Uhr. In einer Viertelstunde fahren wir ab, unglaublich!”
Peter sagt zu mir:
“Hennings hat mich überrumpelt! Ich bin völlig unvorbereitet. Kannst du mir einen Gefallen tun?”
Ich nicke.
“Mein Schreibheft, wir wollten es doch auf dem Dachboden verstecken. Heute Morgen habe ich es da oben versteckt, kannst du mir das holen? Es muss unbedingt in Sicherheit gebracht werden, ich will es mitnehmen.”
Vor dem Haupthaus warten zwei Herren. Es sind die Fahrer der Autos, die Hartmut und Peter abholen. Sie lehnen an ihren Wagen und rauchen Zigaretten. Für die anderen Kinder im Oberlehen verläuft der Nachmittag ruhig, wie jeder andere. Hin und wieder werden Kinder abgeholt und weggebracht. Das ist vollkommen normal, es interessiert niemanden. Bei überraschenden Abtransporten, wie dem von Hartmut und Peter, gibt es keine Abschiedsszenen. Kaum ein Kind merkt, dass ein Abschied stattfindet. Beim Abendessen fragen einige Kinder wo denn Peter und “der Pisser ” geblieben sind. Ich antworte:
“Die haben Hennings und Büchtler ins Erziehungsheim gesteckt.”
Darauf höre ich die Antwort:
“Ach so ja. Alles klar!”
Es ist ein alltäglicher Vorgang. Kein Grund für Aufregung oder Traurigkeit. Einige Kinder bemerken nicht einmal, dass zwei fehlen. Nach wenigen Tagen kommen zwei andere Kinder. An Kindern, die einen Platz am Oberlehen brauchen, scheint es nicht zu mangeln. Das Oberlehen ist stets voll.
Manche Kinder verschwinden so schnell, wie die Erzieherinnen. Hennings und Büchtler wollen niemanden in ihrem Oberlehen, der ihren Stil genauer kennen lernt. Über verschwundene Kinder wird im Oberlehen nicht gesprochen. Es wird so getan, als wären sie nie da gewesen. Genauso ist es mit Erzieherinnen. Ich habe das Gefühl, sie verschwinden dann, wenn sie uns kennen und die Gefahr besteht, dass sie Hennings und Büchtler einschätzen können.
Die Suche nach Peters Schreibheft auf dem Speicher kostet mich viel Mühe. Der Dachboden sieht umgeräumt aus. Unser Versteck, das Matratzenlager finde ich nicht wieder.
Stattdessen liegen die Matratzen kreuz und quer auf dem Speicher verstreut. Der Speicher sieht durchwühlt aus. Trotzdem hebe ich jede Matratze hoch und suche nach Peters Schreibheft. Nachdem ich den ganzen Dachboden durchstöbert habe, steige ich ohne Peters Schreibheft herunter. Das Schreibheft ist spurlos verschwunden.
Der Speisesaal ist leer. Peter und Hartmut sitzen nicht mehr am Mittagstisch. Draußen auf dem Vorplatz sehe ich, dass die beiden Autos vor dem Haupthaus weg sind. Ich habe auf dem Dachboden zu lange gebraucht. Im Oberlehen ist alles ruhig. Die Kinder sitzen, wie an jedem anderen Nachmittag im Aufenthaltsraum und machen Hausaufgaben.
Die Betten von Peter und Hartmut sind abgezogen. Das Zimmer wirkt verlassen, nur meine Sachen sind noch da. Ich laufe über den Hof hinüber ins Haupthaus. Aus dem Keller hole ich meine Schultasche. Mit der gehe ich in den Aufenthaltsraum zur Hausaufgabenkontrolle. Eine Erzieherin, die erst wenige Wochen im Oberlehen arbeitet, schimpft, weil ich zu spät komme. Hennings und Büchtler sind nirgendwo zu sehen. Nach der Hausaufgabenkontrolle gehe ich nicht den Berg hinauf in den Wald in unser Versteck. Ich will dort nicht allein hingehen.
Nachmittags sitze ich allein im Zimmer. Peter hat mich losgeschickt, das Schreibheft zu suchen, weil er nicht wollte, dass ich dabei bin, wenn er abfährt. Den Abschied wollte er mir und sich ersparen. Die Ruhe im Zimmer ist unheimlich. In dem Raum bin ich die Stimmen von Peter und Hartmut gewohnt. Hier spricht niemand mehr. Peter und Hartmut kommen nicht zurück. Ich lege mich auf mein Bett und starre an die weiße Decke. Unglaublich, denke ich, nun ist es vorbei. Ich denke daran, wie schön es wäre, wenn dieser Tag nur einer meiner Träume wäre. Ich will wieder aufwachen und Peter neben mir haben. Auch Hartmut soll wieder in seinem Bett liegen.
Ich bin wütend und traurig zugleich. Wütend bin ich darüber, dass Hennings diejenigen in einem schnellen Handstreich abschiebt, die ihm zu sehr in die Quere kommen. Traurig bin ich, denn ich fühle mich einsam. Eine Niederlage, die mich zu Boden presst. Das ist etwas, für das ich keine Worte finde. In mir spüre ich Schmerz, den ich nicht von dem Schmerz der üblichen Verletzungen, die Büchtler oder Hennings mir zufügen, kenne. Keine Striemen an meinem Körper, keine roten und blauen Abdrücke der Handflächen von Büchtler und Hennings. Keine Rippen schwellen an. Kein Auge schwillt an und schmerzt. Kein Arm schmerzt wegen des harten Griffs von Hennings. Trotzdem fühle ich mich schwer verletzt, auch wenn nicht auf mich eingeprügelt wird. Ich bin geschlagen.
Die Spuren von Störenfrieden, die Hennings vom Oberlehen abschiebt, sind nach wenigen Stunden verwischt. Kein Kleidungsstück, kein Blatt Papier, nicht einmal ein Haar auf dem Fußboden erinnert an deren Anwesenheit.
28. Grüne Minna
Der August ist morgens täglich klar und sonnig. In seinem Wagen, auf dem Weg zu seiner Firma, spricht der Chef von einem “tollen Sommer”. Ich weiß, warum er das betont. Der Chef ist in Berchtesgaden aufgewachsen. Das dauerhaft schöne Wetter ist keineswegs selbstverständlich.
Im Sommer, in dem ich das Oberlehen verlasse, ist es kalt und nass. Die Frau besteigt ihre weiße Limousine, die sie vor wenigen Minuten auf dem weißen Schotter vor dem Haus geparkt hat. Ich stehe auf dem Vorplatz und sehe zu, wie sie den großen Wagen rangiert. Ich höre den grobkörnigen Kies, der unter dem Gewicht des Wagens knirscht. Mit beiden Händen umgreift die Frau fest das schwarze, dicke Lederlenkrad. Ich finde, die Frau sieht ein bisschen verbissen aus, wie sie mit beiden Händen angestrengt am Lenkrad dreht.
Die Motorhaube schiebt sich nach rechts über den ordentlich gerechten Kies, während das Heck schräg über den Hof geschoben wird. Knirschend rollt der Wagen langsam rückwärts. Nun bleibt er stehen. Ich sehe die roten Bremsleuchten, wie sie grell aufleuchten. Der Wagen steht still. Das Seitenfenster an der Fahrerseite fährt herunter. Die Frau schaut zu mir. Sie lässt eine Hand auf dem Lenkrad liegen und bedeutet mir, einzusteigen. Sie winkt mich an die Beifahrertüre heran, dabei lächelt sie. Ich umrunde das Auto und sehe dabei, wie sich die Reifen noch einmal knirschend über den Kies drehen. Der Beifahrersitz ist groß. Ich greife nach dem Sicherheitsgurt. Die Frau hilf mir dabei, denn ich sitze zum ersten Mal in so einem Auto. Die Frau gibt leicht Gas, der Wagen bewegt sich über den Vorplatz.
Vor Wochen schon war mir gesagt worden, dass ich heute einen Ausflug machen darf. Weil ich genau wusste, dass es heute um zwei Uhr losgeht, war ich gleich nach dem Mittagessen in mein Zimmer gelaufen, um mich auf die Abfahrt vorzubereiten. Ich habe mir eine frische Hose und ein frisches T-Shirt aus dem Schrank genommen. Weil ich heute Vormittag in der Schule meine Turnsachen vergessen habe, waren meine Kleider verschwitzt. Jetzt bin ich froh, dass ich mich umgezogen habe, denn im Wagen ist es sehr heiß. Obwohl ich vormittags nach dem Sportunterricht geduscht habe, war ich nach dem Mittagessen schon wieder völlig verschwitzt. Bisher hat es sehr viel geregnet und die Temperaturen waren kaum über achtzehn, höchstens neunzehn Grad angestiegen, heute ist es fast dreißig Grad warm. Hoffentlich bleibt es noch lange so schön warm.
Frisch bekleidet lief ich die Wiese oberhalb der beiden Häuser hinauf. Um viertel vor zwei Uhr setzte ich mich neben der kleinen Bretterbude oberhalb des Bolzplatzes ins Gras. Von dort beobachtete ich alles, was rund um die beiden Häuser und auf dem Vorplatz geschah. Ich wartete auf den Wagen und auf diese Frau.
Büchtler hat mich im großen Speisesaal angesprochen:
“Am 19. Juli, kommt eine Frau, die mit dir einen Ausflug machen wird, um dich kennen zu lernen. Du weißt ja, um was es dabei geht. Sie kommt nachmittags um zwei und nimmt dich mit. Also sieh dich vor, dass du pünktlich auf dem Hof stehst!”
Seit Wochen schlägt Büchtler einen freundlicheren Ton an, als in den vergangenen sechs Jahren. Die Zeiten, in denen er mich angebrüllt oder verprügelt hat, sind endlich vorbei.
Sie braucht keine Gänge einzulegen, der Wagen schaltet automatisch.
“Wie geht es dir?”
Ich weiß nicht, was sie von mir hören möchte. Ich lächle verlegen.
“Mir geht es heute ganz gut, mit dem tollen Ausflug, den ich vor mir habe.“
Aus dem Wagenfenster sehe ich die steile, grüne Wiese mit dem hohen Gras. Im Winter ist das unser Schlittenberg und im Sommer unser Cowboy- und Indianerhügel. Das Gras konnte wegen anhaltendem Regenwetter in diesem Sommer noch nicht gemäht werden. Jetzt bläst ein heißer Sommerwind durch die hohen Halme, ich bin sicher, wenn es weiter so heiß bleibt, wird die Wiese in den nächsten Tagen abgemäht werden. Hennings wird mit der Motorsense auf dem steilen Hang auf und ab laufen. Mir fällt ein, dass Hennings sie nicht mehr abmähen kann, so wie er es in den vergangenen Jahren jeden Sommer mehrmals getan hat, denn er ist seit Wochen verschwunden.
Die Pfingstferien bei Oma und Opa waren sehr schön, aber sie waren sehr schnell vorbei. Nach meiner Rückkehr war Hennings verschwunden. Am Montagmorgen, auf dem Weg zur Bushaltestelle, der Station Erika, sagte ein Kind zu mir:
„Weiste schon, dass Hennings weg is?”
“Nee, keine Ahnung!”
Wenn Hennings nicht da war, war ich froh. Leider war er viel zu selten nicht da. Wenn er mal einige Tage weg war, interessierte ich mich nicht dafür, wo er geblieben war.
“Den hamse abgeholt, vor drei Tagen, mit der grünen Minna!”
Ich verstand nicht, dass mit der “grünen Minna” die Polizei gemeint war. Ich glaubte, dass von Hellings Jägerfreunden die Rede war. Hin und wieder nahm er an Treibjagden teil. Hennings und seine Jägerfreunde trugen grüne Jägerkleidung und fuhren mit grünen Jeeps durch den Wald.
Wegen Michael blieb keine Zeit genauer über die “grüne Minna” zu sprechen. Er kam dazwischen. Ich mag ihn nicht. Ich konnte mit dem Kind nicht weiter sprechen, weil ich auf Michael achten musste. Michael riss Tommi und Paul, das sind die kleinsten von uns, die Schulranzen vom Rücken. Er warf beide Schulranzen einem großen Jungen, der nicht bei uns wohnt, zu. Weil ich dieses Spiel von Michael seit Jahren kenne, tat ich an diesem Morgen, was ich jeden Morgen an der Bushaltestelle tue. Ich flüchtete einige Meter in die Wiese hinter der Bushaltestelle.
Michael sprang dem Buben, mit dem ich gerade sprach, heftig in den Rücken. Er presste das Kind auf die Wiese und riss auch ihm den Schulranzen vom Leib. Den schleuderte er dem anderen großen Knaben zu. Weil der gelbe Schulbus von oben die Straße herunter rollte, warf der große Knabe die Schultasche nicht zurück zu Michael, sondern er schleuderte sie in hohem Bogen weit in die Wiese. Das Kind musste sich beeilen seine Schultasche im hohen Gras zu finden.
Später erfahre ich, dass “die grüne Minna” mit Hellings Jägerfreunden nichts zu tun hat. “Den Kerl wern mir nimmer sehn!”
“Glaubste wirklich?” frage ich.
“Klar, so wias den abgführt hamm, den sehn mir hier nie wieder!”
Wie ein Straftäter, so sagt es der Knabe im Schulbus, wurde Hennings weg gebracht.
29. Prima
Seit ein paar Wochen geht es mir am Oberlehen täglich besser. Das hängt damit zusammen, dass Hennings verschwunden ist, Büchtler freundlicher geworden ist und heute der Ausflug stattfindet. Seit beinahe sieben Jahren wohne ich in den beiden Häusern auf dem Berg, den ich jetzt in einem großen weißen Wagen hinunter rolle. Die Jahre sollen in einigen Tagen vorbei sein. Bei der großen Frau und deren Mann soll ich in Berchtesgaden ein neues zu Hause finden.
Jetzt steuert die Frau den Wagen an der grauen Steinmauer unterhalb des Oberlehens vorbei. Die Mauer hält den Berg davon ab, auf die Straße zu stürzen. Wir überqueren die Brücke über die Schlittenrodelbahn. Rechts durch das Wagenfenster sehe ich die kleine Pension gegenüber der Bushaltestelle, Station Erika.
Die Pension war jeden Morgen mein Ausblick beim Warten auf den Schulbus. Oft habe ich morgens geträumt, wie schön es wäre, in der Pension Erika zu wohnen, anstatt im Oberlehen. In Berchtesgaden nur ein Gast am Obersalzberg in der Pension Erika zu sein! Die Idee fand ich jeden Morgen beim Warten auf den Schulbus sehr schön. Ein Tourist, wie der Ort sie tausendfach kennt. Eines Tages einfach verschwinden, wieder nach Hause fahren, mit meiner Familie, nach Irgendwo. Irgendwo, das war mein schönster Traum! Irgendwo war die ganzen langen Jahre am Obersalzberg mein zu Hause. Irgendwo war mein großes Glück, auf das ich hoffte, das ich mir ausmalte. Irgendwo waren meine Eltern, die mit mir als Touristen diesen Ort endlich verließen, um zu Hause gut anzukommen. Irgendwo war ich Hause, wo ich endlich leben durfte. Mein Irgendwo finde ich jetzt, anstatt weit weg vom Obersalzberg, ganz in dessen Nähe.
Die Frau steuert den Wagen durch die engen Kurven die steile Bergstraße hinunter. Ich hoffe, dass mein Irgendwo ein schönes Zuhause wird. Mein Irgendwo liegt unten in Berchtesgaden. Es liegt auf einer schönen Anhöhe mit Blick hinüber auf den Obersalzberg. Von Irgendwo sehe ich auch den oft tief verschneiten Hohen Göll, den Jenner und rechts den Grünstein vor dem majestätisch erleuchteten Watzmann.
Vor uns fährt ein großer Wagen mit einem amerikanischen Nummernschild. Das Kinderfest bei den Amerikanern, oben im General – Walker – Hotel, und die amerikanischen Autos gehören zu den einzigen schönen Erinnerungen an die Jahre, die ich am Obersalzberg verbrachte.
Abends bringt mich die Frau, die meine neue Mutter in meinem neuen schönen Irgendwo sein wird, wieder hinauf ins Oberlehen. Sie und ihr Mann, den ich noch nicht kenne, der aber mein neuer Vater in meinem schönen Irgendwo werden wird, überlegen ein paar Wochen lang, ob ich bei ihnen wohnen darf.
1977 sind meine Sommerferien in Berchtesgaden wunderschön. Es ist nicht nur das Wetter, das mich glücklich macht. Das Wetter, das helle Licht, die Sonne Ende Juli, die hellen Farben, die grünen hohen Buchen über den saftigen Wiesen rund um Berchtesgaden finde ich in diesem Sommer ganz neu, obwohl ich die Landschaft seit so vielen Jahren kenne. Doch weil ich in diesem Sommer endlich mein neues Irgendwo finde, sieht alles, was ich in dem Ort und der Landschaft schon lange kenne, ganz anders aus. Es ist eine frisch Brise, die plötzlich in Berchtesgaden um meine Nase bläst, die neue frische Farben in meinem Berchtesgaden verteilt. Ich habe das Gefühl, dass wegen meinem neuen Irgendwo alles in diesem Ort bunter und heller aussieht. Selbst der muffige Geruch im Schulhaus, der seit Jahren gleiche Blick aus dem Fenster hinüber zum stillgelegten Eisenbahntunnel Richtung Salzburg hinter dem Schulhof, scheinen sich verändert zu haben.
Es kommt in Frage. Meine neue Mutter und mein neuer Vater in meinem neuen Irgendwo in Berchtesgaden sind einverstanden. Sie entscheiden sich für mich. Ich ziehe um, hinunter ins Tal. Dort beginnt für mich Irgendwo ein neues Leben.
Ich sitze neben Chef. Wie jeden Morgen überqueren wir auf der breiten Straße Richtung Salzburg, beinahe geräuschlos die Arche. Heute spricht er vom Zeitdruck in seiner Fabrik, wegen eines großen Auftrages von einer weltbekannten Kosmetikfirma. Meine Gedanken sind nicht bei der Arbeit. Ich denke nicht an die Finanzbeamten, die auch heute morgen wieder ihre Aktentaschen in die weißen Kleinwagen laden. Herbert, der mich morgens noch nie beim Tippen auf der Schreibmaschine gestört hat, ist heute Morgen nicht in meinem Kopf. Die Frauen im rustikalen Altenheim habe ich heute nicht beobachtet. Selbst das Oberlehen und der Obersalzberg sind endlich vorbei. In meinem Kopf ist nur Irgendwo, mein neues Leben bei meinen neuen Eltern.
Wenige Tage zuvor bin ich dreizehn Jahre alt geworden. Das Jugendamt hat zugestimmt. Ich betrete die Wohnung meiner neuen Familie. Erwachsene sind Befehlsgeber. Es sind Männer, die vorschreiben und befehlen, was und wie etwas zu tun ist. Dass Erwachsene anders als Hennings und Büchtler sind, weiß ich nicht.
Sie sind anders. Sie wollen freiwillig mit mir zusammen leben. An mir verdienen sie nicht ihren Lebensunterhalt, wie Hennings und Büchtler. Diese Erwachsenen bezahlen freiwillig für mich drauf. Sie unterstützen mich in allen erdenklichen Bereichen. Sie fördern mich, so dass ich beginne zu verstehen, was Erwachsene eigentlich von mir wollen. Sie helfen mir, meinen Kopf von Hennings und Büchtler zu befreien. Sie zeigen mir, wie ich meinen Kopf mit Wissen füllen kann. Bei ihnen lerne ich zu lernen.
Ein halbes Jahr später verstehe ich, was die Lehrer in der Schule erzählen. Plötzlich bin ich nicht mehr das Kind vom alten Oberlehen, das nichts versteht. Ich werde der beste Schüler der Klasse. Nach einem Schuljahr wechsle ich auf eine höhere Schule. Erwachsene unterstützen mich nach Kräften. Ich lerne, und ich nehme deren Unterstützung an.
Mein Leben ist umgekrempelt. Die Kinder vom Oberlehen sind weg. Ich besuche sie nicht. Ich sehe sie nie wieder. Auf der Straße, vor meinem neuen Irgendwo lerne ich neue Kinder kennen. Die Nachbarskinder freuen sich über mich. Ich darf mitspielen, als sei ich schon immer da. Ich unterhalte mich mit ihnen. Das ist neu. Es ist etwas, das ich mit den Kindern am Oberlehen nur mit Peter und Hartmut gemacht habe. Ich muss nicht permanent daran danken, wann ich mich vor Erwachsenen und Kindern wie Michael verstecken muss, sondern ich höre Erwachsenen und Kindern zu, ich verstehe, was sie sprechen, und ich rede mit. Mein früheres Leben im Oberlehen ist wie ausgelöscht.
Ich hole auf, was nach so vielen Jahren am Oberlehen noch aufzuholen ist. Ich habe Kontakte zu Gleichaltrigen, ich treibe Sport, ich lerne vernünftig zu sprechen, ich besuche eine höhere Schule. Für manchen Gleichaltrigen werde ich sogar zum Vorbild. In einer Jugendgruppe sagt ein älterer Gymnasiast zu mir, ich sei meinem Alter voraus. Das gibt mir Ansporn, so weiter zu machen. In der Schule bin ich richtig gut. Ich werde nicht der Streber, sondern ein geschätzter Klassenkamerad. Zu Gleichaltrigen habe ich viel guten Kontakt. Ich bin anspruchsvoll, aber nicht arrogant. Ich möchte vernünftige Gespräche führen, denn ich habe viel nachzuholen. Ich habe Hunger nach Erlebnissen mit Gleichaltrigen. Ich fahre Fahrrad, gehe Wandern in die Berge, gehe Skifahren und ins Freibad. Ich bin nicht übermütig oder gar draufgängerisch. Alles entwickelt sich prima rund um meine neue Familie.
Hennings und Büchtler haben mich geprägt, sie haben mein Vertrauen zu ihnen nachhaltig zerstört. Was mir bleibt ist mein Misstrauen zu Erwachsenen. Erwachsenen gehe ich aus dem Weg. Ich will mit ihnen nichts zu tun haben. Am Obersalzberg versuchte ich Hennings und Büchtler Jahre lang täglich aus dem Weg zu gehen.
Obwohl es die neuen Eltern wirklich gut mit mir meinen, versuche ich auch ihnen aus dem Weg zu gehen. Weil ich mit meinen neuen Eltern nicht über mein vorheriges Leben am Oberlehen spreche, weil meine Erlebnisse am Oberlehen aber Spuren verursachen, funktioniert ein Teil in meinem neuen Irgendwo nicht: Die Beziehung zu den neuen Eltern. Sie ist voll von meinem und deren Misstrauen. Sie haben Angst vor mir, ich habe Angst vor ihnen. Sie wissen nicht, dass ich harmlos bin und nichts anstelle. Sie trauen mir, wegen Nichtwissen nicht. Ich weiß nicht, dass sie nicht so sind, wie die beiden Erwachsenen Hennings und Büchtler. Deshalb habe ich Angst, obwohl sie mir nichts tun wollen, als Gutes.
30. Ein Heft
In der Fabrik arbeite ich heute fleißig, wie jeden Tag. Ich versuche wieder mein Bestes zu geben. Im Laufe des monotonen Arbeitstages an meiner Abfüllmaschine spüre ich aber mehr und mehr, dass meine Zeit in Berchtesgaden zu Ende geht. Warum ich hierher zurückgekommen bin, ist in den Wochen eintöniger Fabrikarbeit klar geworden.
Jeden Morgen habe ich, neben der ermüdenden täglichen Fabrikarbeit, an meiner Schreibmaschine meine Geschichte in diesem Ort aufgeschrieben. Ich habe aufgerollt, was ich bis heute noch nicht aufgerollt habe. Ich habe die Wochen, die Zeit in diesem Ort gebraucht, um etwas wertvolles zu erledigen. Die übrig gebliebenen Erinnerungen an das Oberlehen auf dem Obersalzberg habe ich aus meinem Kopf hervor geholt.
Das tägliche Hämmern auf meiner alten Schreibmaschine hatte den Sinn einem Bedürfnis zu folgen, der Erinnerung den Raum zu geben, den sie braucht, um abzuschließen, was in Vergessenheit geraten war. Ich habe erfahren, dass der Schein des Vergessenen trügt. Vergessenes verschwindet nicht einfach auf „nimmer Wiedersehen“, wenn es so wichtig ist, wie mein Leben am Oberlehen und wenn es nicht in meinem Kopf eingeordnet ist, als ruhende Vergangenheit. In das Oberlehen habe ich mich zurückgeführt, weil es in Vergessenheit geraten war, ohne abgeschlossen zu sein. Ich habe es abgeschlossen, indem ich alles zugelassen habe, was aus mir kam und indem ich das, was kam in die passenden Schubladen in mir eingeordnet habe. Die Last meiner Vergangenheit an diesem Ort habe ich so in meinem Kopf befreit. Mein Kopf ist deshalb frei für anderes, für wichtiges in meinem Leben. Es gelingt mir erst heute, die Wichtigkeit meiner täglichen Gegenwart voll zu erkennen, denn die Funktion der Vergangenheit habe ich durch Schreiben und Denken offen gelegt. Vielleicht gelingt es mir eines Tages sogar auch, den Sinn dieser Arbeit in der Fabrik zu erkennen, den ich bis heute nicht begreife.
Heute leiste ich in der kleinen Fabrik wieder Mehrarbeit. Ich arbeite, wie die Kollegen, bis spät abends. Nach der Arbeit fahre ich spät abends in der Dunkelheit noch einmal die kurvenreiche, steile Bergstraße hinauf auf den Berg. An der Station Erika biege ich wieder ab. Ich fahre über die Brücke, überquere die Rodelbahn. Kurz sehe ich links, zwischen den vielen Neubauten das alte Haus, die Pension Erika. Nach der grauen Steinmauer am Berghang biege ich links ab. Meinen Wagen parke ich gleich auf der rechten Seite vor einem Neubau. Die letzten Meter hinauf zum neuen Oberlehen gehe ich zu Fuß auf der spärlich beleuchteten Straße.
Durch einen Nebeneingang dringe ich in das Haupthaus des neuen Oberlehens ein. Es ist eine Holztür mit einem kleinen Fenster. Mit einem Stein schlage ich klirrend die Scheibe ein. Ich greife durch das Fenster und öffne die Tür von innen. Durch das Treppenhaus, vorbei an neuen Wohnungstüren, erreiche ich die Speichertür. Es ist eine Stahltür. Sie ist nicht verschlossen, der Schlüssel steckt. Ich öffne sie. Auf dem Speicher lagern Möbel und alte Matratzen. Ich setze mich auf eine Matratze am Ende des Speichers. Dort ist ein kleines Fenster. Ich öffne es. Die Nacht ist klar. Drüben am Horizont in der Dunkelheit erkenne ich die Silhouette des Untersberges. Peter hatte das Heft damals unter einer alten Matratze auf dem Speicher des Haupthauses versteckt und ich habe es, als er und Hartmut abgeholt wurden, nicht gefunden.
Ich zünde eine Kerze an und blättere in Peters Schreibheft. Peters Handschrift erkenne ich sofort. Einige Passagen stammen von Hartmut, auch seine Handschrift kenne ich genau. Beide sehen aus, wie meine Kinderschrift. Ich lese, was Peter und Hartmut damals geschrieben haben:
25. Juli 1976.
Ich habe heute in einem großen Supermarkt, der in Berchtesgaden neu eröffnet hat, dieses rote Heft geklaut. Es soll ab heute mein Tagebuch sein. Ich werde zusammen mit Hartmut darin schreiben, wenn wir uns oben im Wald oder in unserem Versteck auf dem Dachboden treffen. Es ist gefährlich zu schreiben, denn ich lebe in einem Kinderheim. Wenn mein Heft von jemandem im Heim entdeckt wird, ist es nicht nur weg, es wird für mich deshalb gefährlich werden, weil ich es gestohlen habe. Hennings und Büchtler werden mich auch deshalb schlagen, weil ich in diesem Heft schreibe, was ich denke. Ein gutes Versteck für das, was ich denke, ist unser Dachboden im Oberlehen.
26. Juli 1976.
Es hat stark geregnet. Oft haben wir schwere Regenfälle in diesem Sommer. Ich habe den Dienst “Sauberkeit ums Haus”. Den hat mir Büchtler aufgebrummt. Ich sorge dafür, dass es rund um unser Heim schön ordentlich ist. Der schwere Regen hat den Kies im Hof durcheinander gebracht. Die Wege rund um die Häuser sind versaut. Im Oberlehen leben wir in einer schönen Kinderwelt. Wir sind Taugenichtse. “Du bist nicht mehr als der Dreck auf den Wegen rund ums Oberlehen.” Das sagen Büchtler und Hennings täglich.
Sie schlagen uns nicht nur, sondern sie versuchen, unser Denken zu beeinflussen. Wir sollen nur noch denken, was sie vorgeben. Das tun wir, denn wir tun alles, um deren Schlägen zu entkommen. Wir denken, was sie wollen, was sonst kann der Grund sein, dass wir es nicht schaffen, Widerstand zu leisten? Ich will Widerstand leisten, schaffe es aber nicht, mir zu überlegen, wie, denn mein Kopf ist voll von Vorsicht und Flucht vor den beiden. Sind Erwachsene Terroristen, die mein Denken beeinflussen und genau kennen?
27. Juli 1976.
Sie heißt Station Erika. Morgens laufen wir in fünf Minuten zur Bushaltestelle. Alle Schulkinder vom Oberlehen warten hier. Jeden Morgen pünktlich um Viertel nach sieben kommt der gelbe Schulbus.
Man hört an seiner Sprache, dass er aus Berlin stammt. Heute Morgen begann er sein übliches Spiel. Einem kleineren Buben riss er im Vorbeigehen den Schulranzen vom Rücken. Michael warf die Schultasche einem anderen großen Kind zu. Zwischen beiden flog sie hin und her. Der Kleine wusste, dass es keinen Sinn hatte, wild nach der fliegenden Tasche herum zu rennen. Sich gegen solche Überlegenheit zu wehren, schadet mehr, als dass es nützt. Der Kleine stand und reagierte nicht auf Michaels Provokation.
Beide, Michael und sein großer Freund, vertrieben sich ihre Langeweile. Weil sich der Kleine nicht aufregte, war der Spaß aber nur halb so lustig. Nichtstun des Kleinen stachelte Michael zu weiteren Angriffen auf. Nach wenigen Minuten, den Schulranzen des Kleinen hatte Michael über die flache Wiese hinter die Bushaltestelle geschleudert, packten beide den Kleinen. Sie rissen ihm die Jacke vom Leib und warfen sich nun diese gegenseitig zu, wie zuvor die Schultasche.
Hupend näherte sich der Bus. Michael ließ von dem Kleinen ab, denn er steigt täglich, als erster ein, um einen Sitzplatz im Bus zu bekommen. Der Kleine raffte sich hoch, flitzte über die Wiese zu seiner Schultasche, schnappte sich seine schmutzige Jacke vom Straßenrand und stiegtals letzter in den Bus.
Bei uns herrscht die Macht des Größeren und Stärkeren. Michael und andere Heimkinder machen nach, was Hennings und Büchtler jeden Tag vorführen. Büchtler und Hennings bringen das Zuschlagen in meine Leben. Ich habe das vorher nicht gekannt. Beide kommen aus einem Erziehungsheim. Das ist ein Haus, in dem das Zuschlagen normal ist.
Der Kleine appelliert täglich an das Denken von Michael. Er steht wehrlos da, so wie wir Hennings und Büchtler gegenüberstehen. Der Kleine spricht nicht mit Michael, er kennt Michael schon lange, und weiß, dass Sprechen nichts nützt. Auch Hennings und Büchtler gegenüber schweige ich in solchen Momenten. Der Angriff ist heftig. Michael braucht das. Gegenüber, um anderen Kindern zu beweisen, dass er überlegen ist. So sorgt er dafür, dass er stets respektiert wird. Genauso ist es mit Hennings und Büchtler. Jedes Kind weiß, wie stark die sind, am besten man geht ihnen immer aus dem Weg. Deren Unberechenbarkeit und Launen aber bleiben. Wie der Kleine an der Busstation von Michael, kann man am Oberlehen jederzeit von Hennings oder Büchtler angegriffen werden.
28. Juli 1976.
“Hetzparolen”. Ich bin ein “Aufwiegler”. Deshalb gibt es ein geschwollenes Auge. Es kann auch eine gebrochene Rippe sein, ein gebrochenes Nasenbein, einen ausgerenkten Arm, oder es wird ein Sturz in eine Türe wegen eines Faustschlages ins Gesicht oder in den Magen.
Manchmal werde ich beinahe verrückt. Das liegt daran, dass unser Leben hier so schön aussieht, weil das Oberlehen in einer schönen Landschaft liegt. Es ist schwer zu erkennen, was schief läuft. Oft denke ich, dass das Schlagen und Reden von Hennings und Büchtler ganz normal sind. Manchmal scheint es mir unmöglich herauszufinden, was richtig und was falsch ist. Dann muss ich stundenlang nachdenken, um das Richtige wieder zu erkennen. Dafür brauche ich meine Verstecke.
29. Juli 1976.
Genauso wie manches größere Kind im Oberlehen ist Büchtler ein Angeber. Er findet es gut, ohne Rücksicht auf rote Ampeln und Geschwindigkeitsbegrenzungen von seiner Wohnung im weißen Porsche hinauf ins Heim zu fahren. Damit prahlt Büchtler. Kinder wie Michael glauben, dass es Sinn macht, so etwas zu tun, und darauf stolz zu sein. Ich weiß nicht, welchen Sinn das hat, aber ich sehe einen anderen Sinn:
Büchtler und Hennings sind Chefs. Sie verdienen an uns. Das muss so viel bringen, dass Büchtler sich diesen Porsche kauft. Der Porsche ist Symbol seiner Schläge, die er uns gibt, um damit Geld zu verdienen. Mit dem Auto zeigt er täglich seine Macht, mit deren Gewalt er auf uns einschlägt.
30. Juli 1976.
Samstagmorgens, nach dem Frühstück, treffen wir uns alle im Hof zwischen den beiden Häusern unter der großen Eiche. Zu zweit nebeneinander stehen wir in einer Reihe. Nach dem Abzählen marschieren wir los. Wir laufen auf der Rodelbahn hinunter nach Berchtesgaden. Unser Ziel ist das Hallenbad. Büchtler läuft nicht mit. Er fährt in seinem Porsche. Nach dem Schwimmen verteilt er im Vorraum des Hallenbades das Taschengeld.
Mit dem Taschengeld zahle ich meine Schulden bei Michael. Er ist ein Abkassierer. Jede Woche treibt er Schulden ein. Seine Preise sind hoch. Hat man im Sommer ein Fahrrad von ihm geliehen, kann es sein, dass man im Winter noch dafür bezahlen muss. Wer nicht zahlen will, kriegt Prügel.
Nach der Taschengeldausgabe dürfen wir in Berchtesgaden einkaufen. Wer versucht, seine Schulden nicht gleich an Michael zu bezahlen, wird von ihm hinters Hallenbad gezerrt, verprügelt und seines Geldes erleichtert. Wer es schafft dem Geldeintreiber bis in den Ort zu entkommen, wird an irgendeiner Ecke von ihm aufgegriffen. Wer es schafft, ihm den ganzen Samstagvormittag zu entkommen, wird an der Bushaltestelle unter die Brücke gezerrt und dort verprügelt. Wer nicht an der Bushaltestelle wartet, sondern zu Fuß den Berg hinauf läuft, wird oben nach dem Mittagessen von ihm in den Keller oder aufs Klo gezogen.
“Hoffentlich haste dein Taschengeld noch nicht verjuxt, sonst gibt’s eins auf die Schnautze druff.”
So brüllt Michael in bayerischem Tonfall. Danach blutet meine Nase und ich bleibe auf der Kloschüssel liegen.
“Nächsten Samstag zahlste doppelt, sonst bleibt der Kopp in der Schüssel drinne.”
Am nächsten Samstag zahle ich. Michael hat das von Hennings und Büchtler gelernt. Er beherrscht das mit der Macht des Stärkeren.
31. Juli 1976.
Buchhalter Büchtler und Heimleiter Hennings kalkulieren mit unserer Kindheit. Der Buchhalter berechnet, was wir einbringen. Ein Jugendamt bezahlt für mich. Deren Gegenleistung sind Schläge, Einschüchterung und Druck. Wir sind krank und kaputt. Ich muss dafür bezahlen, vielleicht mein Leben lang. Hennings und Büchtler geht es nicht schlecht, sie leben gut dabei.
01.08.1976.
Im Oberlehen hat sich was entwickelt, das für mich schlecht sein könnte. Mein Misstrauen gegenüber Hennings und Büchtler ist stärker geworden. Ich beobachte sie argwöhnisch, vor allem Hennings. Ich glaube, er merkt, dass mir sein Umgang mit den Heimbewohnerinnen am Oberlehen nicht gefällt.
Die Notizen enden hier, denn am nächsten Tag wurden er und Hartmut in ein anderes Heim gebracht.
Büchtler übernimmt ein knappes Jahr später die Leitung des Oberlehens. Hennings wird an einem nasskalten kühlen Sommertag von der Polizei abgeholt. Was Hennings vorgeworfen wird, weiß ich nicht.
Büchtler ist ein brutaler Kerl. Er ist nicht so dumm wie Hennings. Er ist kalt und berechnend. Grausamkeiten und Racheakte, die er vollzieht, vollzieht er gezielt. Er will genau das Kind treffen, dem er einen heftigen Schlag verpasst. Er will Macht über das Kind und dessen Willen brechen. Eine eigene Meinung eines Kindes gibt es nicht. Büchtlers Macht ist unantastbar. Kinder werden mit Schlägen hörig gemacht.
Hennings dagegen agiert gefühlsgeleitet und im Affekt. Er ist Opfer seiner Unfähigkeit, sich selbst und seine Triebe zu kontrollieren. Die Position des Heimleiters wirkt an Hennings lächerlich. Ich glaube, dass Hennings dumm ist. Büchtler ist berechnend und intelligent. Bei Büchtler spüre ich Lust an Gewalt. Es ist erschreckend, dass er das Oberlehen nach Hellings Inhaftierung übernimmt und noch mehrere Jahrzehnte allein weiterführt.
Die Hausbesitzerin entdeckt die zerschlagene Fensterscheibe. Sie bemerkt, dass ich mich auf dem Speicher aufhalte. Sie ruft die Polizei. Ich werde verhört. Als Grund meines Eindringens gebe ich Peters Schulheft an, dass ich gesucht habe und schließlich auch gefunden habe. Ich muss es als Beweisstück der Polizei geben.
Für meinen Einbruch am neuen Oberlehen werde ich haftbar gemacht und später verurteilt. Die Polizei findet heraus, dass das Schreibheft von Peter keine zwanzig Jahre, sondern höchstens einen Monat alt ist. Außerdem ist die Schrift eindeutig mit meiner Handschrift identisch. Deshalb wird angenommen, dass es die Personen Hartmut und Peter nie gegeben hat. Dass ich diese Personen als Verfasser des Schreibheftes benenne, was ich als Grund für meinen Einbruch angebe, interessiert die Beamten, die meine Aussagen akribisch protokollieren, nicht.
Die Wohnung in der Hochsteinstraße und meine Arbeit in der Fabrik gebe ich im September auf. Ich ziehe zurück in die Stadt.
31. Arbeitszeit
Ein Jahr später laufe ich in einem Amt in der Stadt, einen grauen Korridor entlang. Manche der vielen Türen steht offen. Ich sehe hinter den Schreibtischen die Gesichter der Menschen, die hier arbeiten. Mancher Blick ist fröhlich, mancher ausgelassen und heiter. Einige Gesichter sehen eher grimmig aus, manch eines wirkt ein bisschen verschlafen. Ab heute werde ich täglich an diesen Bürotüren vorbei gehen, denn ab heute ist hier mein neuer Arbeitsplatz. Ich finde mein Büro ganz hinten in dem langen Korridor. Dort biege ich nach links ab, es ist finster, die dritte Tür führt in mein Büro.
Hennings und Büchtler sind aus meinem Kopf verschwunden. Ich glaube, tatsächlich ist eingetreten, was ich mit meiner Suche nach der Vergangenheit in dem schönen Gebirgsort bezweckt habe. Ich habe das Gefühl, dass die Zeit meiner Kindheit, die am alten Oberlehen von den beiden Männern bestimmt worden war, tatsächlich überwunden ist.
Der Dienststellenleiter, Herr Müller, führt mich durch verschiedene Büroräume. Dort stelle ich mich meinen neuen Kolleginnen und Kollegen vor. Müller öffnet die erste Bürotüre. Es ist ein finsterer, schmaler Raum. Eine Frau erhebt sich vom Stuhl hinter ihrem Schreibtisch. Müller stellt mich namentlich als neuen Kollegen vor. Ich schüttle der Frau die Hand, und begrüße sie freundlich. Jetzt sehe ich in ihr Gesicht. Während ich sie ansehe, beginnt sie zu sprechen, ich höre ihre Stimme:
“Roswita Maier, guten Morgen!”
Es ist eine laute, aufdringliche Stimme, die mir sofort sehr bekannt vorkommt. Jetzt wird ihre Stimme noch lauter, obwohl ich ganz nahe vor dieser Frau stehe, ruft sie:
“Ich glaube, wir kennen uns!”
Zweifel sind ausgeschlossen. Die aufdringlich laute Stimme erkenne ich. An das Gesicht aber kann ich mich nicht erinnern. Diese Roswita Maier muss vor mehr als zwanzig Jahren unter Hennings und Büchtler am alten Oberlehen gearbeitet haben. Aus irgendeinem Grund muss mein Nachname, mit dem Müller mich gerade vorgestellt hat, dieser Frau bis heute in Erinnerung geblieben sein.
Deren aufdringliche Stimme weckt in mir schlimme Erinnerungen an mein Leben im Oberlehen. Roswita Maier muss eine der vielen Erzieherinnen gewesen sein, die damals stets für kurze Zeit am Obersalzberg gearbeitet haben. Roswita war aber keine der Rettungsanker, auf die ich damals bei mancher Erzieherin am Oberlehen gehofft habe. Ihre harte, laute, aufgebrachte Stimme weckt in mir eine tiefe alte Angst. Sie flackert plötzlich wieder auf. Es ist die Angst, die mich als Kind immer vor Erwachsenen zurückschrecken ließ, die mich in eine Ecke trieb, um mich zu verstecken. Niemals habe ich daran gedacht, dass das wieder kommt. Plötzlich, in diesem engen, finsteren Büroraum, vor dem Schreibtisch dieser Roswita ist wieder da, was ich jahrelang nicht mehr gespürt habe. Plötzlich fühle ich mich wie gelähmt.
Schnell verlasse ich das Büro. Ich möchte mit dieser Roswita nicht weiter reden. Müller weiß nicht, woher Roswita mich kennt und ich will auch nicht, dass es dazu kommt, dass er sich darüber Gedanken macht. Es scheint ihm nichts auszumachen, dass wir das Büro von Roswita sehr schnell verlassen.
Es ist die Angst, die mich immer überwältigt hatte, wegen der Unberechenbarkeit, die ich im Denken und Handeln der beiden Männer gespürt hatte. Angst wegen der unberechenbaren Macht, der ich ausgeliefert war, weil ich Kind war. Roswita löst mit ihrer harten Stimme schreckliche Gefühle und Erinnerungen in mir aus.
In den nächsten Tagen suche ich Roswita trotzdem in ihrem Büro auf, denn ich habe in meinem Kopf mit dem Leben am Oberlehen abgeschlossen. Ich will nur wissen, was sie über das Oberlehen am Obersalzberg denkt.
Deren Erinnerung ist vollkommen anders. Sie erinnert sich an die schöne Natur und die Wälder rund um mein Heim. Sie findet, dass wir naturverbunden und in kindgerechtem Lebensraum aufwachsen durften. Roswita schwärmt von der grünen Natur und den Bergen rund um das alte Oberlehen. Sie betont laut und deutlich, was sie damals bewogen hatte, am alten Oberlehen für etwa ein halbes Jahr lang zu arbeiten: Die reizvolle und wunderschöne Umgebung und der Schnee auf den hohen Bergen hatten es ihr angetan. Von der Gewalt der beiden Männer gegenüber Kindern weiß sie nichts.
Ich spüre ihre Erwartung an mich, die guten Erinnerungen an ihre Arbeitszeit in der herrlichen Naturlandschaft, wieder zu beleben. Ich lerne eine sehr neugierige, beinahe distanzlose, laute Frau kennen. Mehrfach muss ich deren aufdringliche Fragen zu meinem Leben am alten Oberlehen, die sie stets sofort beantwortet wissen will, abblocken. Ihr Interesse an meiner Vergangenheit ist oberflächlich. Es ist davon geleitet ihre Erinnerungen an ihre Arbeitszeit auf dem schönen Obersalzberg wieder aufblühen zu lassen.
32. Wandertag
Seit beinahe dreißig Jahren lebt Büchtler von Kindern, für deren Entwicklung er Verantwortung übernimmt. Es ist ein warmer Julitag 1999, dem letzten Jahr dieses Jahrtausends. An diesem Tag geben Jugendämter immer noch Kinder in die Obhut von Büchtler. Büchtler führt ein Haus, ähnlich dem Oberlehen. Es liegt auf einem niedrigeren Berg gegenüber dem Obersalzberg in Berchtesgaden. Es ist ein kleineres Haus.
Am heutigen Tag geschieht etwas besonderes. Ein kleines Kind ist, wie jeden Morgen, unterwegs in die Schule. Es verlässt um halb acht Uhr das Haus von Büchtler. Wie jeden Tag schlendert es langsam die schmale Straße vor dem Haus hinunter. Heute trägt das Kind keinen schweren Schulranzen auf dem Rücken, denn heute wird kein Unterricht abgehalten. Es ist der Wandertag, den die Schule einmal im Jahr macht. Die Schulklasse wird einen schönen Ausflug auf einen der nahen Berge unternehmen. Das Wetter ist wunderschön, deshalb könnte sich das Kind eigentlich auf den bevorstehenden Tag in den Bergen freuen.
An einem Aussichtspunkt am Waldrand bleibt das Kind einige Minuten lang stehen. Drüben, auf der anderen Seite des Tals, sieht es den Obersalzberg. Der Himmel ist blau heute morgen, nur einige winzige Schäfchenwolken ziehen oben am Kehlsteinhaus vorbei. Das Kind freut sich aber nicht über das schöne Wetter. Es steht traurig am Weg und schaut über das enge Tal.
Den Ort unten und die umliegenden Berge sieht das Kind verschwommen. Immer wieder wischt es sich die Augen. Das Bild des schönen Tals wird nicht klarer. Immer wieder rollen Tränen aus den Augen des Kindes, so dass es selbst den Waldweg unter seinen Füßen nicht mehr klar erkennen kann. Trotzdem setzt das Kind seinen Weg Richtung Schule fort. Es möchte nicht, dass die Lehrerin bei Büchtler anruft, und fragt, warum es noch nicht da ist. Heute ist es besonders unglücklich. Büchtler hat gestern wieder gezeigt, welche Macht er hat, und wer der Herr in seinem Haus ist. Büchtlers Gewalt kann das Kind nicht entkommen. Das Kind hat Angst, wenn Büchtler ihm nur gegenüber tritt.
Das Kind betritt das Schulhaus. Es läuft schnell hinauf in seinen Klassenraum, wo alle anderen Kinder schon warten. Auch die Lehrerin wartet auf das Kind, denn vor fünf Minuten schon sollte der Ausflug beginnen. Das Kind war noch nie zu spät in die Schule gekommen. Die Lehrerin sieht sofort, dass mit dem Kind etwas nicht in Ordnung ist. Obwohl die Schulklasse jetzt losgehen möchte und deshalb sehr unruhig ist, nimmt sie das Kind kurz zur Seite. Sie schickt die anderen Kinder hinunter in den Schulhof, dort sollen sie warten. Sie fragt, was los ist. Das Kind weint. Die Lehrerin will wissen, was los ist. Das Kind denkt sekundenlang nicht an die Angst. Deshalb erzählt es, wie es seit langer Zeit von Büchtler behandelt wird. Es erzählt von Zittern vor Büchtler, das immer da ist, das nicht mehr aufhören mag. Die Lehrerin tröstet das Kind.
Minuten später geht die Lehrerin mit dem Kind hinunter zur Schulklasse. Der Ausflug kann beginnen. Unterwegs denkt die Lehrerin darüber nach, ob sie verschweigen muss, was sie von dem Kind erfahren hat. Zunächst glaubt sie daran, dass sie nichts unternehmen darf. Weil das Kind am Morgen sehr verstört war, kann die Lehrerin sich nicht vorstellen, dass es erfunden hat, dass Büchtler es schlägt und ihm permanent Angst macht.
Vom Freibad, das die Lehrerin nachmittags mit der Schulklasse besucht, ruft sie das Amt an. Sie denkt sich nicht viel dabei, nur dass sie glaubt, sie muss es tun. Sie glaubt nicht, dass sie das Kind, den Schuldirektor, oder gar Büchtler fragen muss, ob sie das tun darf. Sie tut es einfach, weil sie glaubt, dass es einem Kind schadet, so verstört zu sein. Was die Lehrerin am Telefon sagt, findet das Amt so interessant, dass gleich ein Mitarbeiter losgeschickt wird, um in Büchtlers Haus zu überprüfen, ob dort Dinge passieren, welche die Angst des Mädchens erklären könnten.
Büchtler ist nicht in seinem Haus. Stattdessen trifft der Mitarbeiter des Amtes auf eine junge Frau. Sie arbeitet seit ein paar Monaten im Haus von Büchtler. Der Mitarbeiter des Amtes spricht bei einer Tasse Tee mit der Frau. Die Frau fasst Mut und erzählt von einzelnen Vorfällen die das Kind verängstigen. Es ist körperliche und psychische Gewalt, denen die Kinder wegen Büchtler ausgesetzt sind. Sie erzählt von Lasten die Kinder, wegen der Verletzungen, die Büchtler ihnen zufügt, zu tragen haben. Sie erzählt von Verletzungen, die Peter damals gemeint haben könnte, als er in unserem Versteck am alten Oberlehen vom Terror der beiden Männer sprach. Sie erzählt, dass Büchtler stets, sein Handeln in ein Licht rückt, dass es sehr schwer macht, das unmenschliche zu erkennen. Der Alltag in Büchtlers Haus sehe sehr ruhig und unauffällig aus. Büchtlers Gewalt aber mache die Seelen der Kinder kaputt. Angst sei das wichtigste Mittel Büchtlers.
Weil das Amt am nächsten Tag ankündigt, Büchtlers Haus ab sofort sehr genau zu kontrollieren vielleicht sogar zu schließen, schlägt Büchtler die Frau brutal zusammen. Sie wird im Krankenhaus behandelt. Büchtler behauptet, nichts damit zu tun zu haben. Es sei ein Unfall geschehen. Das Amt reagiert. Es bringt die Kinder aus Büchtlers Haus in anderen Orten unter. Büchtler sagt, dass er sowieso mit der Arbeit aufhören wolle.